Jahresrückblick 2021: Mehr Kiezblocks, viele Erfolge für bessere Fahrradinfrastruktur und Verpflichtungen der Politik

Jahresrückblick 2021

Im Jahr 2021 konnte unser Netzwerk spürbare Erfolge in der Veränderung des Status quo verbuchen. In den meisten Fällen ging dem jahrelanger Druck in Form von Protesten, kritischen Pressemitteilungen und fachlichen Stellungnahmen voraus. Wir sind stolz auf das Erreichte. Aber das vergangene Jahr zeigt uns ebenfalls, dass wir weiterhin einen langen Atem brauchen, bis endlich die Menschen in den Mittelpunkt der Städte- und Verkehrsplanung gestellt werden.

Erreicht wurden unter anderem:

  • 7 erfolgreiche Radentscheide, die Beschlüsse zur Umsetzung ihrer Forderungen erreicht haben,
  • die Gründung 7 neuer Radentscheide,
  • der Berliner Radverkehrsplan wurde endlich – nach 1,5 Jahren Verspätung – mit Verpflichtungen zum Einrichten von über 3.000 Kilometern neuer Radwege mit vergleichsweise guten Standards verabschiedet,
  • das Bekenntnis zur Förderung von Kiezblocks im Berliner Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Rot,
  • Beschlüsse zur Umsetzung von 9 Kiezblocks (Friedrichshain-Kreuzberg: 2; Mitte: 2; Neukölln: 3; Pankow: 2),
  • zahlreiche Verbesserungen der bestehenden Berliner Fahrradinfrastruktur, oft  nach jahrelangem zivilgesellschaftlichen Druck in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden.

Erfolge

Radentscheide

Die Bewegung der Radentscheide wächst und wächst. Mittlerweile haben fast eine Million Menschen ihre Unterschrift für die Verkehrswende abgegeben. Eine Bewegung dieser Größe lässt sich nicht ignorieren! Das sollte auch die Bundespolitik schnellstens erkennen. Anstatt der bloßen Reaktion auf lokale Radentscheide braucht es ein Mobilitätsgesetz auf Bundesebene, dass die Verkehrswende voranbringt.

Im Jahr 2021 gründeten sich neue Initiativen in Dresden, Esslingen, Jena, Kaarst, Lübeck, Mannheim und Weimar. Unterschriften für Radentscheide wurden in Bochum, Heidelberg, Lüneburg und Weimar gesammelt. In den Städten unterstützen bisher insgesamt mehr als 40.000 Bürger*innen die Anliegen der Initiativen. Jüngster Radentscheid ist der in Osnabrück, der soeben den Beginn der Sammelphase bekannt gegeben hat. 

Noch weiter ist der Radentscheid Brandenburg. Bereits im Januar wurden knapp 30.000 Unterschriften eingereicht. Wenige Monate später einigte man sich mit der Landesregierung darauf, kooperativ an einem Mobilitätsgesetz für das gesamte Bundesland zu arbeiten. 

Beschlüsse zur Umsetzung ihrer Forderungen vermelden die Radentscheide in Bonn, Erfurt, Erlangen, Jena, Nürnberg, Koblenz und Schwerin. 

Viel Erfolg wünschen wir den Radentscheiden aus Bochum, Lüneberg und Offenbach. Sie haben insgesamt fast 30.000 Unterschriften eingereicht und können hoffentlich bald die Umsetzung all ihrer Ziele vermelden. 

Verabschiedung Radverkehrsplan

Der Berliner Radverkehrsplan verpflichtet das Land Berlin zur deutlichen Verbesserung der Fahrradinfrastruktur. Die Grundlage ist das Berliner Mobilitätsgesetz, das durch den Einsatz des Volksentscheids Fahrrad entstanden ist. 

Konkret wurde nun der Bau von über 3.000 Kilometern neuer Radwege bis 2030 beschlossen. Davon sollen 850 Kilometer mindestens 2,50 Meter breit sein. 

Wir begrüßen den Beschluss. Wird er tatsächlich umgesetzt, wäre das ohne Zweifel ein deutlicher Fortschritt zur aktuellen Situation der Berliner Fahrradfahrer*innen. Angesichts des Schneckentempos, mit dem die Berliner Verwaltung bisher arbeitete, ist die Umsetzung bis 2030 leider wenig realistisch. Schon der Radverkehrsplan selbst wurde mit 1,5 Jahren Verspätung fertiggestellt. Deshalb wird eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Verantwortlichen kontrolliert und an ihrem Wort misst, auch weiterhin eine entscheidende Rolle spielen.

Kiezblocks

Das Kiezblock-Konzept – die Erhöhung der Lebensqualität durch Befreiung der Kieze vom Durchgangsverkehr – wurde in Berlin durch Changing Cities zu einem starken Faktor der Verkehrswende von unten. Über 50 Kiezblocks-Initiativen sind bereits entstanden und machen in den Bezirken Druck. Dieser beharrliche Einsatz der Bürger*innen zeigt immer mehr Ergebnisse. Für neun Kieze in ganz Berlin wurden im Jahr 2021 die Einrichtung von Kiezblocks beschlossen. 

In Friedrichshain-Kreuzberg kommen die Kiezblocks Reichenberger Kiez und Viktoriakiez dazu. Die Anwohner*innen des Bellermannkiezes und des Brüsseler Kiezes in Mitte können sich ebenfalls in Zukunft über die Befreiung vom Durchgangsverkehr freuen. In Neukölln werden aus dem Reuterkiez, dem Richardkiez und dem Schillerkiez Kiezblocks. Außerdem werden in Pankow Kiezblocks im Komponistenviertel und im Arnimkiez als Verkehrsversuche angelegt.

Darüber hinaus veranlassen aktuell mehrere Bezirksverordnetenversammlungen, dass die Umsetzbarkeit weiterer Kiezblocks geprüft wird. Allein in Mitte geht es dabei um zwölf neue Kiezblocks! Dabei bekommen sie hoffentlich von der neu regierenden rot-grün-roten Koalition Rückendeckung. Schließlich nennt diese in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich Kiezblocks als unterstützenswerte Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung.

Das sind greifbare Erfolge des zivilgesellschaftlichen Engagements und basisdemokratischer Instrumente, die allen Einwohner*innen offenstehen. Wir sind sicher, dass auch die in Zukunft verwirklichten Kiezblocks positive Beispiele für ganz Berlin und weitere Städte werden. Sie werden zeigen: Es geht auch ohne Durchgangsverkehr. Und vor allem: Es geht deutlich besser! 

Angesichts von Kiezen, in denen das soziale Leben aufblüht, fordern wir weiterhin eine Politik, die Mobilität für alle gleichermaßen ermöglicht und die Bedürfnisse von Menschen ohne Auto genauso ernst nimmt, wie derer mit Auto. Das ist soziale und gerechte Politik. Mehr Lebensqualität für alle – auch künftige Generationen – bleibt unser Ziel. Die Politik steht vor der Entscheidung: „Stellen wir die Autos oder die Menschen in den Mittelpunkt?” 

Verbesserungen der Fahrradinfrastruktur

In Berlin muss jeder Meter Radweg mühsam erstritten werden. Das ist ärgerlich, kostet viel Kraft und nimmt Zeit in Anspruch, die wir als Gesellschaft angesichts der sich entfaltenden Klimakrise nicht mehr haben. Der motorisierte Verkehr ist für fast ein Viertel der klimaschädlichen CO2-Emissionen verantwortlich. Darum müssen schleunigst Alternativen zum Auto gefördert werden werden. Dafür setzen sich unsere Aktiven vor Ort ein. Die Verbesserungen der Fahrradinfrastruktur sind auf ihre Ausdauer zurückzuführen sowie auf die kooperative Zusammenarbeit mit Teilen der Verwaltung und anderen Verbänden. 

So kam der Impuls zur Verbesserung der Situation an der Unfallkreuzung „Am Friedrichshain/Friedenstraße“ unmittelbar durch eine von Changing Cities organisierte Mahnwache für eine dort getötete Radfahrerin.

Wie seit Beginn der Pandemie-Maßnahmen von Changing Cities gefordert, wurden mittlerweile mehrere Pop-up-Radwege, vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, in dauerhafte Radwege umgewandelt. 

Dazu kommen neue und geschützte Radfahrstreifen in der Danziger Straße, in der Bülowstraße und in der Kleiststraße, am Adlergestell, in der Lichtenberger Straße sowie in der Invalidenstraße. Nach  langem Lobbying feierten wir endlich den Baubeginn des neuen geschützten Radwegs am Tempelhofer Damm. Am Vorarlberger Damm, an der Attilastraße und der Frankfurter Allee wurden Radwege erneuert und verbreitert.

Aktionen

Im Jahr 2021 hat Changing Cities deutschlandweit mit vielen kreativen Aktionen lebenswertere Städte gefordert: Vom Spontanprotest über leider immer noch notwendige Mahnwachen bis hin zu öffentlichen Versammlungen wie dem Kiezgipfel waren die Formate bunt und vielfältig.

Pop-up-Radwege zum Weltfahrradtag 2021

Um zu unterstreichen, dass die Verkehrswende möglich ist, brachte das Bündnis BundesRad in über 30 Städten von Bamberg bis Weimar Pop-up-Radwege auf die Straße. Diese schnell anzulegenden Radwege fordern wir seit Langem. Das Jahr 2020 zeigte am Beispiel Berlins, dass sich mit dieser Methode die Planungs-, Evaluations-, und Beteiligungsprozesse deutlich beschleunigen lassen. Mit der Aktion trug das Bündnis Pop-up-Radwege in alle Ecken der Republik, damit Bürgermeister*innen und Stadtverwaltungen diesen Ansatz übernehmen. // Foto: © Norbert Michalke

Mahnwachen

Die Ausrichtung von Mahnwachen in Berlin ist ein Thema, das Changing Cities leider seit der Gründung begleitet. Auch dieses Jahr mussten wir zehn Mal gemeinsam auf den Straßen um getötete Radfahrer*innen trauern. Auch für getötete Fußgänger*innen haben wir etliche Mahnwachen abgehalten, denn uns liegt die Sicherheit aller ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen am Herzen. Wir arbeiten weiter daran, dass wir Euch irgendwann nie wieder über eine Mahnwache informieren müssen! // Foto: © Norbert Michalke

Kiezgipfel

Beim Kiezgipfel kamen Vertreter*innen der über 50 Kiezblocks-Initiativen vor dem Roten Rathaus zusammen, um sich zum ersten Mal persönlich zu treffen, die Größe und Vielfalt der Bewegung zu erleben und Erfahrungen auszutauschen. Sie forderten mehr Tempo bei der Einrichtung von Kiezblocks. In knapp 20 Workshops wurde wertvolles zivilgesellschaftliches Know-how weitergegeben und neue Verbindungen geknüpft. Die Veranstaltung wurde organisiert von Changing Cities und KIEZconnect. Sie zeigte die Arbeit vieler Berliner Initiativen und Einzelpersonen, unter anderem LitterPickers, Fridays For Future (FFF), Extinction Rebellion, Donut Berlin, Transformation Haus und Feld, Klimaneustart, ZeroWaste und vielen mehr. // Foto: © Ana Torres Photography

Tour de Verkehrswende

Mit der Tour brachten wir Paris zum Verkehrsministerium in Berlin. Dort wird gerne abgewartet und alles beim Alten belassen. Changing Cities hingegen zeigte quer durch die Republik, dass die Verkehrswende machbar ist, wenn man nur will. Die knapp 100 Teilnehmer*innen fuhren in zehn Tagen 600 Kilometer mit einem symbolischen Eiffelturm von Essen nach Berlin. Bei den Zwischenhalten vernetzten sie sich mit lokalen Initiativen und legten einen Grundstein für die zukünftige Zusammenarbeit. Darunter waren Ortsgruppen des ADFC sowie des VCD, TransitionTown Hannover und Fridays For Future, vor allem aber Initiativen wie die Magdeburger Radkultur und die Radentscheide aus Essen, Marl, Bielefeld und Brandenburg. // Foto: © Norbert Michalke

KonTra IAA

Kontra IAA-Kongress und -Proteste in München

Die Automobilausstellung IAA verkleidete sich 2021 als zukunftsgewandte „Mobilitätsmesse“. Das ließ ihr ein breites, zivilgesellschaftliches Bündnis nicht durchgehen. Zusammen mit Attac (bundesweit, München und Rosenheim), dem Verein „autofrei leben!“, dem BUND Bayern, dem Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, dem Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung, den Naturfreunden sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten wir einen Gegenkongress. Hier wurden wirklich moderne Konzepte für eine klimafreundliche Fortbewegung der Zukunft vorgestellt und diskutiert. Changing Cities organisierte vor allem die Öffentlichkeitsarbeit und nahm an mehreren Podien teil.

Der Kongress wurde durch zahlreiche Protestaktionen im Umfeld der IAA begleitet. Insgesamt wurde der Autoindustrie und ihrer PR ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht und die öffentliche Diskussion um zahlreiche kritische Stimmen bereichert. // Foto: © Changing Cities

Kidical Mass

Zusammen mit der Initiative „Kinder aufs Rad“ organisiert Changing Cities die „Kidical Masses“. Das Format der Critical Mass, bei der Radfahrende öffentliche Räume beanspruchen, die sonst durch den Autoverkehr dominiert werden, wird hier auf Kinder und Familien zugeschnitten. Auch sie wollen schließlich sicher mit dem Rad unterwegs sein. Bundesweit fanden im September 142 dieser Demonstrationen statt. Allein in Berlin nahmen über 1.200 Menschen an den acht von den Bezirksnetzwerken von Changing Cities organisierten Kidical Masses teil. Dabei durften wir auf die tatkräftige Unterstützung des ADFC, des VCD, WeAct und weiterer Initiativen zählen. // Foto: © Norbert Michalke

Radentscheid Schwerin

Beim Schweriner Radentscheid lief eigentlich alles wie am Schnürchen. Mit über 6.000 Unterschriften übertraf der Radentscheid im April die notwendige Anzahl deutlich. Von der Stadt Schwerin kamen positive Signale. Doch plötzlich stellte sich das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern quer. Angeblich sei kein Geld für die Umsetzung der Forderungen da. Für eine Klage gegen diese Willkür und Verdrehung der demokratischen Prozesse benötigte der Radentscheid rasch 6.000 Euro. Dank einer Spendenkampagne von Changing Cities kam der Betrag innerhalb weniger Tage zusammen und es konnte ein Rechtsgutachten erstellt werden. Dank großer und kritischer Medienaufmerksamkeit lenkte das Ministerium ein. Das Friedensangebot kam direkt vom Innenminister, der sich mit den Aktivist*innen zum Gespräch traf. Noch im selben Monat beschloss die Stadtvertretung mit großer Mehrheit, die Ziele des Radentscheids umzusetzen. Na also, es geht doch! // Grafik: © Yvonne Hagenbach

Nikolausaktion

Kurz bevor sich die Berliner Kinder in die wohlverdienten Weihnachtsferien verabschieden, wurde der Nikolaustag an vier Berliner Grundschulen und an zwei Kitas auf ungewohnte Art gefeiert. Im Gepäck hatten die Nikoläus*innen nicht nur Süßigkeiten. Mit geschmückten Lastenrädern schenkten sie den Kindern geöffnete Schulwege: die Straßen vor der Schule oder der Kita waren für den Autoverkehr gesperrt und für Kinder geöffnet. Selbstverständlich war das nur der Anfang: Für das Jahr 2022 haben Changing Cities und viele Elterninitiativen einiges in Petto, um sichere Schulwege ohne Elterntaxis zur Wirklichkeit zu machen! // Foto: © Norbert Michalke

Changing Cities bedankt sich bei allen Aktiven, Fördermitgliedern und Spender*innen für die tolle Unterstützung in diesem Jahr. Mit Euch an unserer Seite gehen wir voller Mut in das nächste Jahr. Vielen Dank, dass Ihr für uns da seid!

Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

Beitragsbild und Kiezgipfel: © Ana Torres Photography, KonTra IAA: Changing Cities, alle anderen Bilder: © Norbert Michalke