Wer in Berlin Auto fährt, ist selten arm

Im Berliner Koalitionsvertrag zum Verkehr fehlt ein klares Bekenntnis zur Reduktion der Kfz in der Hauptstadt. Es gibt weder konkrete Zahlen noch definierte Ziele. Begründung: Die „kleinen Leute” dürften nicht übermäßig belastet werden. Dabei zeigen wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig, dass ärmere Menschen weit weniger Autos besitzen als die Wohlhabenden.

Die Verteuerung des Anwohner*innenparkens müsse im „sozialverträglichen Rahmen“ geschehen, erklärt Franziska Giffey (SPD). Aber die schützende Hand über den Autofahrer*innen hilft in erster Linie den Bessergestellten. 

„Wir wissen, dass ärmere Länder am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben und gleichzeitig am meisten darunter leiden. Wenn es aber um Autoverkehr geht, ist das vorherrschende Narrativ: Die ‚armen‘ Autofahrer*innen dürfe man nicht belasten. Dabei ist die Mehrheit der Pkw-Besitzer*innen natürlich nicht arm, sondern recht gut betucht. Und im Verkehr in Deutschland ist es wie im internationalen Ländervergleich: Die Armen tragen am wenigstens zum motorisierten Individualverkehr bei, leiden aber am meisten unter seinen Folgen. Politiker*innen aus SPD und Teilen der Linken müssen sich dringend an wissenschaftliche Fakten halten oder zugeben, dass es ihnen im Grunde um das Aufrechterhalten von Privilegien der Bessergestellten geht“, so Ragnhild Sørensen von Changing Cities.

Laut einer Studie aus Berlin besitzen 44 von 100 der wohlhabendsten Einwohner*innen einen oder mehrere Pkw. Von denjenigen mit sehr niedrigem Einkommen haben nur 22 von 100 ein eigenes Auto. Vergleicht man den Autobesitz mit der sozioökonomischen Wohnlage, ergibt sich ebenfalls ein eindeutiges Bild: Die Autobesitzquote ist am größten in den reicheren Speckgürteln.

Auch die Befragung „Mobilität in Städten“ (SrV) zeigt den Unterschied deutlich: Berliner Haushalte mit einem Netto-Einkommen von weniger als 500 € verfügten durchschnittlich über 0,2 Pkw, während die reichsten Haushalte mit Netton-Einkommen von mehr als 5.600 € mit 1,27 Pkw mehr als 6-mal so viele besaßen.

Eine im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums durchgeführte Befragung ergibt dasselbe Bild: Demnach besitzen deutlich mehr als 70 Prozent der Berliner Haushalte mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 500–1.500 Euro im Monat kein Auto, bei einem Einkommen von bis zu 2.000 Euro sind es 62 Prozent und selbst bei bis zu 3.000 Euro hat die Mehrheit von 55 Prozent kein eigenes Auto. Erst von den Menschen, die in Berlin mehr als 3.000 Euro pro Monat verdienen, hat die Mehrheit ein (oder mehrere) eigene Auto(s).

„Eine Verkehrswende, also die Dekarbonisierung des Verkehrssektors, geschieht nicht zu Lasten der Ärmeren, sie ist nicht ungerecht und sie fördert keine soziale Schieflage. Im Gegenteil: Die Verkehrsstrukturen, die wir heute haben, sind ungerecht und davon profitieren in erster Linie die Wohlhabenden. Natürlich muss man bei allen größeren Transformationen ein Auge auf die sozialen Auswirkungen haben und bei Bedarf nachjustieren. Aber es ist vollkommen absurd, wenn so getan wird, als sei das jetzige System sozial gerecht“, kommentiert Dirk von Schneidemesser, Vorstand bei Changing Cities. 

Die Verkehrswende ist für die Klimawende dringend notwendig. Wir fordern von der neuen Berliner Regierung, dass sie konsequent den motorisierten Individualverkehr in der Stadt reduziert statt sich mit falschen Narrativen aus der Verantwortung zu stehlen.

Ansprechpartner*innen:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, 0171 535 77 34

Weiterführende Links:   
Zusammenhang von Verkehrswende und sozio-ökonomischer Lage in Berlin, 15. September 2021, Expiri
Mobilität in die Zukunft steuern, November 2021, UBA
Berlin: Auto fahren (fast) nur die Reichen, 29. September 2020, Heise
Mobilität in Städten (SrV 2018), Tab 2.8

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Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.