Selbst schuld!

25 Fußgänger*innen und elf Radfahrer*innen starben letztes Jahr auf den Berliner Straßen. In zehn Fällen mit getöteten Radfahrenden urteilt die Polizei: Die Opfer haben ihren Tod selbst verursacht. Diese Beurteilung sagt mehr über den Blickwinkel der Polizei als über den tatsächlichen Hergang der Kollisionen. Das Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz erkennt z. B. unzureichende Infrastruktur nicht als Unfallursache an. Außerdem weist Changing Cities darauf hin, dass Gerichte über Schuldfragen entscheiden und nicht die Polizei.

Im November 2024 wurde ein Radfahrer nachts bei wenig Verkehr beim Queren der Landsberger Allee durch einen Raser getötet. Laut Polizei ist der Radfahrer der Mitverursacher des Unfalls – auf gleicher Ebene wie der Raser! Wer auf die Straße tritt und nicht berücksichtigt, dass ein Auto dreimal so schnell wie erlaubt heran rasen könnte, wird von der Polizei als Mitverursacher eingestuft. Dabei sind Geschwindigkeiten für viele Menschen bereits bei Tag schwierig zu erfassen und nachts ist dies auf Grund fehlender Referenzpunkte noch schwerer. „Deswegen bestehen wir auf einer fehlerverzeihenden Infrastruktur, deren Design Unfälle vermeidet. Auch Maßnahmen wie Tempo 30 fordern wir – denn selbst bei Fehlverhalten verlaufen Kollisionen bei dieser Geschwindigkeit selten tödlich“, kommentiert Ragnhild Sørensen von Changing Cities.

Die Polizeistatistik berücksichtigt nicht, welche Gefahr ein motorisiertes Fahrzeug für nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer*innen darstellt. Wenn zwei Fußgänger*innen zusammenprallen, stirbt äußert selten jemand – egal wer von den beiden „Schuld“ hat. Wenn aber ein Pkw gegen eine*n Fußgänger*in prallt, sind die Folgen für den*die Fußgänger*in viel schlimmer als für den*die Pkw-Fahrer*in – egal, wer Verursacher*in ist. Deswegen benötigen Menschen, die nicht im Auto sitzen, mehr Schutz. Denn wir alle sind nicht frei von Fehlern. Eine moderne Infrastruktur bietet genau diesen Schutz.

Das gesetzliche Unfallursachenverzeichnis listet 89 Ursachen auf. Davon betreffen zehn den Straßenzustand: Schnee, Eis, Regen, Laub, mangelhafte Beleuchtung usw. Wenn aber der Radweg einfach aufhört und eine Radfahrerin sich in den fließenden Verkehr einfädeln muss, lautet die Ursache: Fehler beim Einfahren in den fließenden Verkehr (Ursache 37). Unzureichende Infrastruktur ist im Unfallursachenverzeichnis keine Kategorie; individuelles (Fehl-)Verhalten wird sehr oft als Ursache erkannt. Das hat aber zur Folge, dass ein Unfall kein Handeln der Verwaltung nach sich zieht – oder wie es dann heißt: „Keine Maßnahmen mit Begründung: Der Unfall­hergang liefert nach derzeitigem Stand keine Anhalts­punkte dafür, dass das Risiko für ein ähnliches Ereignis durch eine Veränderung der örtlichen Infrastruktur reduziert werden könnte.“ Es war ja individuelles Fehlverhalten!

„Die Bestimmung des Verursachers ist kein neutrales Unterfangen. Das Unfallursachenverzeichnis spiegelt wie die StVO und andere Regelungen, die den Verkehr betreffen, ein veraltetes, autozentriertes Weltbild wieder. Hier geht es nicht in erster Linie um Sicherheit für alle Menschen, sondern immer noch um die Leichtigkeit des Autoverkehrs. Um das Ziel, Vision Zero, zu erreichen, ist eine weit umfassendere Analyse des Geschehens erforderlich,“ sagt Sørensen. Eine Stadt ohne Verkehrstote ist möglich, wenn sie gewollt und von den Verantwortlichen entsprechend gestaltet wird. Schuldzuweisungen lenken von dieser Verantwortung ab. Das weiß auch Verkehrssenatorin Ute Bonde.

Weiterführende Links:
Artikel über Fahrradunfälle 2024 im Tagesspiegel vom 10. Januar

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