Radverkehrsplan: Zu spät, zu wenig, zu unpräzise – und dennoch Verpflichtung

Mit einem Jahr Verspätung wurde nun der Radverkehrsplan in erster Lesung im Senat beschlossen. Im Vergleich zur alten Radverkehrsstrategie aus dem Jahr 2013 ist es ein großer Fortschritt. Changing Cities sieht jedoch Mängel im Radnetz, in dem große Teile des Vorrangnetzes auf Hauptstraßen verlegt werden, wo ein konsequenter Vorrang für den Radverkehr praktisch nicht möglich ist, weil er mit dem ÖPNV-Vorrang dort kollidiert. Zentrale Punkte wie Maßnahmenplan sowie Kosten- und Ressourcenschätzung fehlen gänzlich.

Zum ersten Mal benennt die Senatsverkehrsverwaltung konkrete quantitative Zielvorstellungen: Jetzt steht es schwarz auf Weiß, was die Radverkehrsplaner*innen pro Jahr schaffen müssen. Nächstes Jahr stehen bereits berlinweit 40 km (3,5 km pro Bezirk) Vorrangnetz auf dem Programm; im Vergleich zu 2020 stellt das schon fast einen Quantensprung dar, denn es wurde bisher noch nicht am Vorrangnetz gebaut und seine Priorisierung ist nun ein erster wichtiger Schritt. Begrüßenswert ist der Fokus auf das Sicherheitsempfinden der Radfahrenden, denn nur damit gelingt es, auch diejenigen zum Radfahren zu verführen, die sich bislang noch nicht trauen – eines der zentralen Ziele der Initiative Volksentscheid Fahrrad, die dafür 2016 über 100.000 Unterschriften gesammelt hatte.

Allerdings wird hier vorsichtshalber angemerkt: „Die Realisierbarkeit des Ausbaupfades hängt von der Bereitstellung der benötigten Personal- und Finanzmitteln sowie den notwendigen strukturellen Voraussetzungen ab.“ Zu deutsch: Mal schauen, was überhaupt angegangen wird. „Hier hat die SPD gebremst und dafür gesorgt, dass die notwendigen Ressourcen nicht benannt werden. Sie hat die Größe des Projektes Verkehrswende entweder nicht verstanden oder verweigert sich ihr bewusst. Senat und Bezirke werden sich so weiterhin im Klein-Klein verlieren und sich über Ressourcen und Personal streiten, statt einfach zu bauen. So ist eine zielorientierte Umsetzung des Radverkehrsplans nicht möglich“, kommentiert Ragnhild Sørensen von Changing Cities.

Außerdem fehlen dem Radverkehrsplan straßengenaue Umsetzungspläne, eine Einladung für weiteres Hinauszögern sowie Streit zwischen Bezirken und Senat. Obwohl im Fließtext benannt wurde, dass die Dimensionierung künftiger Radverkehrsanlagen über die Maßgaben der technischen Regelwerke hinaus gehen sollen, ist zweifelhaft, ob die angestrebten Dimensionen und Maße ein ausreichend klares Bekenntnis zur Umverteilung von Straßenraum vom motorisierten Individualverkehr hin zum stark ansteigenden Radverkehr darstellen. 

Das Radverkehrsnetz wurde im Vergleich zum Radnetzentwurf der vier Mobilitäts- und Umweltverbände arg zurechtgestutzt. Der häufige Verlauf der Radvorrangrouten auf Hauptverkehrsstraßen birgt Planungsverzögerungen wegen vieler Konflikte mit dem immer noch garantierten Verkehrsfluss für Kfz, sowie dem im Mobilitätsgesetz ebenfalls festgeschriebenen Vorrang für den ÖPNV. Einzig positiv ist zu werten, dass Senat und Bezirke jetzt eigentlich sofort losplanen können – die Ausrede des fehlenden Radverkehrsnetzes zählt nicht mehr. 

„Es ist mit dem jetzt vorliegenden Radverkehrsplan eine Vision für 2030 ausgesprochen. Wie man dahin kommt, bleibt allerdings nach wie vor unklar. Denn schaut man an, was derzeit gebaut und geplant wird, sehen wir, dass vieles weit hinter den selbst gesteckten Standards zurückbleibt. Dem Senat und den Bezirken fehlen klare zeitliche und örtliche Vorgaben, eben ein Plan konkreter Baumaßnahmen für die Umsetzung der Verkehrswende in Berlin. Darauf warten wir alle noch, drei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes,“ so Sørensen von Changing Cities. 

„Dass wir jetzt kurz vor Ende der Legislaturperiode überhaupt noch einen Radverkehrsplan bekommen, ist sicher auch das Verdienst der Zivilgesellschaft, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich Druck gemacht und viele konstruktive Beiträge eingebracht hat. Der Radverkehrsplan ist nicht der große Wurf, der nötig gewesen wäre, aber immerhin Verpflichtung für jeden künftigen Senat, jetzt endlich in der Fläche auf Basis der selbst gesetzten Standards mit der Verkehrswende loszulegen. Wer aber wirklich großstadttauglich regieren will, sollte sich nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern den Plan zügig den Zielen des Mobilitätsgesetzes entsprechend weiterentwickeln, verbessern und mit Ressourcen untersetzen,“ resümiert Denis Petri von Changing Cities.

Ansprechpartner*innen:

Denis Petri, denis.petri@changing-cities.org, 0176 57 72 25 32
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, 0171 535 77 34

Weiterführende Links:

Pressemitteilung des Senats vom 7. September 2021

Das Berliner Radnetz

Radnetzentwurf der Verbände

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Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.