Poller-Bashing im Faktencheck

Reißerische Überschriften, ziellose Debatten, die Poller für alles Unglück verantwortlich machen: für zerbrochene Freundschaften und sogar für angeblich fehlende Sicherheit der Bürger*innen. Aber was stimmt daran? Changing Cities macht den Faktencheck.

Die B.Z. titelte am 3. September: „Poller-Irrsinn behindert Feuerwehr“. Die neuen Poller im Richardkiez in Neukölln behinderten angeblich die Durchfahrt der Feuerwehr. Die Poller seien entweder nicht umklappbar, oder die Feuerwehr habe nicht für alle Poller den passenden Schlüssel. „Das kann Menschenleben kosten“, unkt der befragte Feuerwehrmann.
Faktencheck: Die Poller sind umklappbar.
Das Bezirksamt teilt mit: „Umklappbare Poller ermöglichen es Einsatzkräften […], die Sperren zu durchfahren, sollte das abhängig von der konkreten Lage die bessere Möglichkeit sein.“ Für die umklappbaren Poller existieren Schlüssel. Weshalb die Feuerwehr in diesem Fall nur einen Schlüssel hatte, konnten wir nicht ermitteln. Evtl. liegt hier ein Fehler in der Kommunikation oder Abstimmung nach der Ausführung vor – diese soll schnellstmöglich behoben werden. 

„Lebensgefahr Kiezblock“ wittert die B.Z.:
Faktencheck: Zu den Gefahren in Berlin gehört der Straßenverkehr. Insbesondere Fußgänger*innen, Kinder und ältere Menschen sind dadurch gefährdet. Wer sich also wirklich um die Sicherheit der Menschen sorgt, sollte Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung begrüßen – und nicht mit Falschaussagen verteufeln. Kiezblocks sind schließlich konstruktive Lösungen für eine klimaresiliente Zukunft der Wohnkieze. Kein Kiezblock ist auch keine Lösung.

Die B.Z. prangert an, dass die Feuerwehr auf ihrem Weg zum Einsatz durch Poller verlangsamt werde. 
Faktencheck: Das Bezirksamt teilt mit: „Weniger Verkehr sollte grundsätzlich eine schnellere Erreichbarkeit bedeuten.“
Denn es ist ja nicht so, als hätten die Rettungsdienste normalerweise freie Fahrt in Berlin. Tatsächlich blockieren Falschparker an Straßenecken und in der zweiten Reihe die Durchfahrt für die großen Rettungsfahrzeuge. Das ist Berliner Alltag und muss besser organisiert werden. Z. B. mit Kiezblocks.

Die B.Z. behauptet: „Beschlossen hat den „Kiezblock Rixdorf“ bereits 2021 die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV). […] Eine Bürgerbeteiligung gab es nicht.“ 
Faktencheck: Es gab Ende 2017/Anfang 2018 eine Bürgerbeteiligung, die von der TU Berlin begleitet wurde. Das Bezirksamt Neukölln informiert: „Insgesamt etwa 250 Einzelhinweise, gebündelt in mehr als 150 Maßnahmenvorschläge, sind in die Erarbeitung eines Entwurfes für ein finanzierbares Maßnahmenkonzept eingeflossen.“
Dass nicht alle Interessen zu 100 Prozent berücksichtigt werden können, ist dabei normal: Ein Kiezblock ist wie alle städteplanerischen Maßnahmen ein ausgleichender Kompromiss. Demokratie eben. Genau das wollen die Gegner*innen nicht akzeptieren. Polizei, Feuerwehr und BSR werden aus gutem Grund bevorzugt behandelt. Ließen sich die Beteiligungsformate und Planungsprozesse verbessern? Sicher – doch hierfür wären Geld und Ressourcen erforderlich, die von der CDU-geführten Senatsverwaltung gestrichen wurden.

B.Z. „argumentiert” weiter: „[D]er Bezirk [habe] die Retter nicht mal darüber in Kenntnis gesetzt.“ Der Bezirk Neukölln habe also den Kiezblock ohne vorheriger Absprache mit der Feuerwehr eingerichtet.
Faktencheck: Verkehrsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) bestätigt, dass die Feuerwehr in die Planung eingebunden und gehört wurde. Das Bezirksamt gibt bekannt: „Polizei, Feuerwehr, BVG und BSR sind im Rahmen der Planungen beteiligt worden.“ 

Innensenatorin Spranger (SPD) stößt ins selbe Horn und wird im Tagesspiegel vom 9. September zitiert, „dass in den Bezirksverordnetenversammlungen einzelne Fraktionen ohne Abstimmung das Leben von Menschen unter Umständen gefährden, weil wir durch die Poller nicht mehr zu den Einsatzorten kommen, wie es nötig ist.“
Faktencheck: Ein Kiezblock kann erst nach einem Mehrheitsbeschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) eingerichtet werden. Eine Minderheit oder gar eine Fraktion kann einen Kiezblock – oder irgendwelche anderen Maßnahmen – nicht beschließen und umsetzen. Die Verkehrsberuhigungsmaßnahme kann auch nur durch Mehrheiten abgelehnt werden. Wie z. B. in Lichtenberg Anfang des Jahres, als CDU mit AfD und BSW gegen den Kaskelkiezblock votierten und diesen so kurzfristig abschafften. Die entsprechenden Mehrheitsverhältnisse kamen jedoch nur zustande, weil mehrere BVV-Mitglieder krank waren. Darum wurde der Kiezblock später von der demokratisch gewählten Mehrheit wieder beschlossen.

B.Z meint, dass „der Richard-Kiez schleichend zu einem komplizierten Geflecht aus Einbahnstraßen und Zufahrt-Sperren“ geworden sei.
Faktencheck: Im Richardkiez gibt es an drei Stellen Sperren, die den Durchgangsverkehr unterbinden. Hinzu kommen einige Einbahnstraßen. Erfahrungen aus anderen Kiezblocks zeigen, dass der Anfang für alle eine Herausforderung ist. Es dauert eine Weile, bis sich Navis auf die neue Realität eingestellt haben, die Lieferant*innen die neu eingerichteten Lieferzonen kennen und schätzen lernen und die Anwohner*innen sich an die neuen Straßenführungen gewöhnen. Langfristig wird die Verkehrsberuhigung jedoch erfahrungsgemäß von der Mehrheit der Anwohnenden begrüßt, da sie die Aufenthaltsqualität spürbar erhöht.

Um Probleme in der Praxis zu vermeiden, steht Changing Cities in engem Austausch mit wichtigen Akteuren. Erst Juni diesen Jahres hat Changing Cities einen Austausch mit Feuerwehr-Experten initiiert. Mit den „Empfehlungen für Superblocks“ von Changing Cities sind Standards für die Einrichtung von Wohnvierteln ohne Durchgangsverkehr veröffentlicht. Darin heißt es: „Die Erreichbarkeit für Polizei und Rettungsdienste, für Menschen mit blauem EU-Parkausweis, Warenanlieferung, Abfallentsorgung, Handwerk, Pflegedienste und sonstigen Wirtschaftsverkehr wird gewährleistet oder sogar verbessert.“ 

Hinzu kommt: Je mehr Fläche versiegelt ist und je mehr Autos darauf parken, umso stärker heizt sich ein Wohngebiet auf. Dieser Sommer war der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen. Wenn sich Städte tagsüber aufheizen und nachts nicht abkühlen, raubt uns das im besten Falle „nur“ den Schlaf. Alte Menschen und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen jedoch sterben regelmäßig an Hitze. Das Konzept der Kiezblocks zielt auf Abkühlung durch Flächenentsiegelung und Schatten spendende Bäume. Ein weiteres Mortalitätsrisiko ist die Feinstaubbelastung in Städten. Studien zeigen, dass sich die Luftqualität durch Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung wie Kiezblocks verbessert.

„Poller zerstören Freundschaften“, erklärte eine Bürgerin auf einer Anhörung zum Kaskelkiez in der Lichtenberger BVV.
Faktencheck: Es müsste korrekterweise heißen: „Poller zerstört Freundschaften“, denn im Kaskelkiez wurde nur ein einzelner Poller aufgestellt.
In Berlin gibt es inzwischen über 70 Initiativen für Kiezblocks, die sich aktiv für Verkehrsberuhigung – evtl. mittels Poller – in ihren Wohnvierteln engagieren. Bundesweit steigt die Zahl der Bürgerinitiativen rasant und erst vor wenigen Tagen wurden in Köln zwei neue „Superblocks“ beschlossen. Über die Ästhetik der gestreiften Metallstangen wird oft diskutiert, aber ihre Wirksamkeit ist nachgewiesen. Es gibt bisher keine Forschung zur psychologischen Kausalitätsbeziehung zwischen Metallstangen und menschlichen Beziehungen. Möglicherweise führt jedoch die gestiegene Lebensqualität auf der Straße zu dem ein oder anderen Plausch unter Nachbarn.

Pressekontakt:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, 0171 535 77 34

Weiterführende Links:
Artikel in der B.Z. vom 3. September
Artikel im Tagesspiegel vom 9. September 
Informationen zur Beteiligung im Rixdorfer Kiez: mein.berlin.de und berlin.de
Kölner Stadtanzeiger vom 9. September

Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.