Modernes Straßenverkehrsrecht für alle. Jetzt umsetzen.

Ein breites Bündnis aus Verkehrs-, Umwelt- und Verbraucherverbänden mit der Fahrradwirtschaft fordert heute, die Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) unter den Maßnahmen des Klimaschutzsofortprogramms klar zu priorisieren. Um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen, brauche Deutschland nicht nur eine Antriebswende, sondern eine echte Verkehrswende mit massiver Verlagerung von Autofahrten. Nur eine umfassende Reform des veralteten StVG und der darauf fußenden Straßenverkehrsordnung stelle sicher, dass Kommunen den Fuß-, Rad- und Nahverkehr konsequent ausbauen können. Die Reform sei außerdem schnell und kostenneutral zu realisieren. Nach der Sommerpause müsse Bundesverkehrsminister Wissing einen Referentenentwurf vorlegen, Ende 2022 müsse das Gesetz bereits verabschiedet sein, so die Forderung des Bündnisses heute auf einer Bundespressekonferenz.     

Ann-Kathrin Schneider, ADFC-Bundesgeschäftsführerin, ist Initiatorin des Bündnisses. Sie sagt: „Natürlich müssen wir aus dem Verbrennermotor aussteigen – aber die Antriebswende reicht für den nachhaltigen Verkehr nicht aus. Die Menschen brauchen im 21. Jahrhundert vor allem gute Alternativen zum Auto. Das StVG ist im Kern noch das Kfz-Gesetz aus der Kaiserzeit. Es ist völlig antiquiert und behindert die Kommunen bei der Verkehrswende vor Ort. Wie appellieren an Minister Wissing: „Gehen Sie jetzt in die Geschichte ein als erster Verkehrsminister, der Fahrrad, Fuß und Bahn wirklich substanziell nach vorne bringt – und damit moderne Mobilität überhaupt erst ermöglicht.“

Ragnhild Sørensen von Changing Cities sagt: „Ein Weiter-So im Verkehrssektor ist eine klare Entscheidung für einen Kollaps auf den Straßen und für eine Beschleunigung der Klimakrise. Die Bundesregierung muss mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln diese katastrophale Entwicklung bremsen. Eine Novellierung des Straßenverkehrsgesetz ist dabei ein wichtiger Hebel. Und zwar noch in diesem Jahr, denn die Zeit rennt uns davon. Noch können wir unsere Zukunft gestalten und nicht nur die Schäden minimieren.“

Eine moderne Verfassung für die Straße

Zügig mit dem Auto voranzukommen, ist im aktuellen Straßenverkehrsgesetz (StVG) wichtiger als der Schutz von Menschen, ihrer Gesundheit oder der Klimaschutz. In der Praxis bedeutet das, dass beispielsweise geschützte Radfahrstreifen, Fahrradstraßen oder großflächiges Tempo 30 von Kommunen oftmals nicht umgesetzt werden können, weil dafür die Rechtsgrundlage fehlt. Das lässt sich aus der über 100-jährigen Geschichte des StVG als Kraftfahrzeuggesetz herleiten. Heute jedoch leiden Straßen, Menschen und Klima unter einem drastischen Zuviel an Autoverkehr. Ein modernes Straßenverkehrsgesetz muss daher die umweltfreundlichen und platzsparenden Verkehrsarten Fuß, Rad und Nahverkehr klar gegenüber dem Auto priorisieren, so das Bündnis.     

Warum die schnelle StVG-Reform so wichtig ist

Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP steht unmissverständlich: „Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“ Auf die zügige Umsetzung dieser für den klimafreundlichen Verkehr essenziellen Reform drängt jetzt das Verbändebündnis mit der Fahrradindustrie. Im Folgenden erklärt der ADFC die Hemmnisse für die Verkehrswende im aktuellen Straßenverkehrsrecht anhand konkreter Beispiele.

StVG im Geist des Kraftfahrzeuggesetzes der Kaiserzeit
Das Straßenverkehrsgesetz (StVG) von heute entspricht in Aufbau und Stoßrichtung noch dem Kraftfahrzeuggesetz von 1909. Die wichtigsten Kapitel regeln ausschließlich Kfz-Belange: Paragraph eins die Zulassung von Kraftfahrzeugen, Paragraph zwei die Fahrerlaubnis und so weiter. Das Gesetz ist als Ordnungsrecht zur Gefahrenabwehr ausgestaltet. Sein Gesetzeszweck ist die „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ – und meint damit in erster Linie den Kfz-Verkehr. Auch die Straßenverkehrsordnung (StVO), die auf Ermächtigungen des StVG beruht, lässt nur den Zweck der Gefahrenabwehr für Veränderungen im Straßenraum zu.

Förderung von Fuß, Rad und Nahverkehr unzulässig
Neben dem Zweck der „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ ist der Zweck, den klimafreundlichen Fuß- und Radverkehr zu fördern aktuell unzulässig. Deshalb ist beispielsweise die Umwandlung von Kfz-Parkplätzen in Fahrradparkplätze, die Anordnung von fahrradfreundlichem Tempo 30 oder die Einrichtung von Radfahrstreifen nicht möglich, wenn sie nicht durch auffällige Unfallzahlen begründet werden können.

Die relevanten Passagen finden sich in § 45 Absatz 9, Satz 1 und 3 der StVO:
„Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist.“
„Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht (…).“

Beispiele von verhinderten Verkehrswende-Maßnahmen

Pop-up-Radwege in Berlin
Radfahrstreifen auf der Fahrbahn gelten als „Beschränkung des fließenden Verkehrs“, weil Kraftfahrzeuge auf ihnen nicht fahren dürfen. In Berlin wurden bis Mai 2020 acht temporäre Radfahrstreifen mit rot-weißen Baken und Markierungen eingerichtet, um während der Corona-Pandemie schnell mehr Platz für den Radverkehr zu schaffen. Das Verwaltungsgericht Berlin gab dem Eilantrag eines Verkehrsteilnehmers statt, diese Pop-up-Radfahrstreifen sofort entfernen zu lassen. Nur die nachträgliche Begründung durch Verkehrszählungen und Unfallstatistiken konnten die Radfahrstreifen später retten. Die Einrichtung nur zum Zweck der Fahrradförderung – ohne den Nachweis bereits geschehender Unfälle – wäre nicht möglich gewesen. Dies ist umso absurder, als dass Fahrradunfälle dort, wo es keine Radwege gibt, nur selten passieren – weil solche Abschnitte von Radfahrenden eher gemieden werden. Die Unfallstatistik ist in solchen Fällen blind für die Notwendigkeit einer Radinfrastruktur.

Geschützter Radfahrstreifen in Düsseldorf
Die Einrichtung eines geschützten Radfahrstreifens in einem Düsseldorfer Industriegebiet ist 2021 vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen gescheitert. Das Anliegen, Radfahrende vor parkenden Lkw am Fahrbahnrand zu schützen und die Situation für Rad fahrende Kinder zu verbessern, reichte nicht aus. Auch hier galt: Die Einrichtung von Radfahrstreifen mit alleinigem Ziel, eine Lücke im Radverkehrsnetz zu schließen oder den Radverkehr zu fördern, ist unzulässig.

Fahrradstraße in Hannover
In Hannover scheiterte 2021 die Einrichtung einer Fahrradstraße, auf der Tempo 30 gilt und Radfahrende Vorrang haben, an den Klagen eines Anwohners. Die Fahrradstraße sei aus Verkehrssicherheitsgründen nicht „zwingend erforderlich“, so das Verwaltungsgericht.

Umwandlung von Kfz-Parkplätzen in Fahrrad-Parkplätze in Bremen
Das Oberverwaltungsgericht Bremen verhinderte 1998 die Umwandlung von Kfz-Parkplätzen in Fahrrad- und Lastenrad-Parkplätze, weil diese Maßnahme nur der Fahrradförderung und nicht der Gefahrenabwehr diene.

Modaler Filter auf Fahrradstraße in Frankfurt / Main
Die Stadt Frankfurt hatte 2020 eine Fahrradstraße durch Poller für den durchgehenden Kfz-Verkehr gesperrt. Dieser sogenannte „Modale Filter“ sollte den Verkehr beruhigen und das Radfahren fördern. Das Verwaltungsgericht ordnete die Beseitigung der Poller an. Es vermisste Zahlen über bereits geschehener Unfälle und Anzeigen wegen Nötigung oder Gefährdung. Der Zugang zu zwei Schulen über diese Straße reichte als Begründung nicht aus.

Tempo 30 an Hauptstraßen
Auch die Einrichtung von großflächigem Tempo 30 scheitert bisher an der StVO und dem zu Grunde liegenden StVG. „Die Zonen-Anordnung darf sich weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs noch auf weitere Vorfahrtsstraßen erstrecken.“ Ausnahmen gibt es nur im unmittelbaren Bereich von Kitas, Schulen oder Altenheimen. Diese Einschränkung ermöglicht bestenfalls einen Flickenteppich, aber kein umfassendes Konzept für eine kommunale Verkehrsberuhigung.

Presse-Kontakte
ADFC: Stephanie Krone, Bundespressesprecherin, T: 030-209 14 98-65, M: presse@adfc.de
Changing Cities: Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, +49 171 535 77 34
DNR: Pressestelle, T: 030-678 1175-78, M: presse@dnr.de
VZBV: Pressestelle, T: 030 25800-525, M: presse@vzbv.de

Weiterführende Links:
Forderungspapier zu einem reformierten Straßenverkehrsgesetz
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Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

Über das Bündnis: Das auf ADFC-Initiative hin formierte Bündnis aus 14 Verkehrs-, Umwelt- und Verbraucherverbänden mit der Fahrradindustrie hat sich zum Ziel gesetzt, die Bundesregierung an die übergeordnete Bedeutung der StVG-Reform für den klimafreundlichen Verkehr zu erinnern – und konkrete Vorschläge für die Umsetzung zu machen.  Im Bündnis engagieren sich der Fahrradclub ADFC, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND, der Bundesverband CarSharing bcs, der Verein Changing Cities, der Deutsche Naturschutzring DNR, die Deutsche Umwelthilfe DUH, der Fachverband Fussverkehr Deutschland Fuss e.V., Greenpeace, die Klima-Allianz Deutschland, der Verbraucherzentrale Bundesverband, der ökologische Verkehrsclub VCD, der Verbund Service und Fahrrad VSF, der Zweirad-Industrie-Verband ZIV und der Bundesverband Zukunft Fahrrad.