Fahrgemeinschaft für die Zukunft: Ein persönlicher Tourbericht

Die Tour de Verkehrswende 2023 führte uns von Bremerhaven nach Berlin. Ein persönlicher Bericht von Harald Ullrich

Am 18. August startet die 3. Tour de Verkehrswende (TdV) von Bremerhaven nach Berlin, und – juchhu! – ich bin endlich dabei. Die Tour führt diesmal durch vier Bundesländer, und in 14 kleinen Städten der deutschen Provinz werden wir unsere Zelte aufschlagen.

Als ich in Rotenburg an der Wümme endlich dazu komme, ein paar Notizen in mein Tagebuch zu schreiben, sind wir schon Tage unterwegs. Ich bin so voller Eindrücke, dass ich nicht weiß, wie ich beginnen soll. Hier folgen einige Auszüge.

Zuallererst: Meine Befürchtung, dass mir das vegane Essen nicht wirklich schmecken würde, hat sich schnell erledigt. Krischan und sein Chef-Knoblauchschäler Uwe – beide von der Fläming Kitchen – sind die Wucht. Das von ihnen zubereitete Essen ist abwechslungsreich, frisch und lecker, und immer gibt es Salat.

Als geübter Radfahrer habe ich keine Angst, am Tag im Schnitt 60 km zurückzulegen. Viel anspruchsvoller ist der permanente Input durch den Austausch, wenn wir im Pulk nebeneinander radeln. Wir reden über Verkehr, die Welt und auch darüber, welcher Luftdruck bei einem Reifen den geringsten Walkwiderstand hervorruft. An jedem Menschen klebt ein Namensstreifen, was mein Gedächtnis dankbar registriert.

Gestartet sind wir in Bremerhaven mit ca. 140 Aktivist*innen. Die meisten stammen aus der Region und wollen vor allem den Wesertunnel mit durchfahren, der auf unserer Route liegt. Danach biegen sie ab, aber andere kommen dazu, auch als wir von den Aktivisten*innen der „A20Nie“ auf einer grünen Wiese mit Kuchen und Kaffee bei leichtem Nieselregen empfangen werden.

Was sie uns über das Projekt der A20 berichten, ist erschreckend. Während allerorts daran gearbeitet wird, Moore wieder zu vernässen, sollen hier große Moore Norddeutschlands trockengelegt werden – obwohl der Nutzen der neuen Autobahn zweifelhaft ist. Lebensräume für Fauna und Flora würden zerstört und unendlich viel CO2 freigesetzt werden. Nein, das darf nicht sein! Keine neuen Autobahnen! Sie schenken uns Aufkleber. So tragen wir ihre Forderungen nicht nur im Herzen weiter.

Gern nehme ich den mir vom Orgateam angebotenen Ordnerdienst an. Dazu fahre ich an der Spitze hinter der Rennleitung und versuche jede einmündende Straße zu korken, d. h. zu sperren, indem ich mich querstelle. Wir sind ein ganzer Schwarm von „Korkern“ und überschlagen uns im Eifer, Straßen zu korken. Das macht Spaß und bringt Abwechslung. Derweil rollt die Gruppe gemächlich mit 14 bis 17 km/h durch die flache Wesermarsch.

Am Ende der ersten Etappe kommen wir durchnässt vom Regen in der Oldenburger Innenstadt an. Es ist warm und schwül. Nach einigen Grußworten finden wir Unterkunft auf einer Schulwiese und dürfen glücklicherweise auch die Turnhalle benutzen. Hier trocknen unsere Sachen.

Am Morgen strahlt die Sonne durch die frische, gereinigte Luft. Es ist ein Genuss ein- und auszuatmen. Pünktlich um 10 Uhr setzt sich der Tross von ca. 30 Radfahrenden in Bewegung, eskortiert von zwei Polizeiwannen und drei Polizisten auf Motorrädern, die für uns das Korken übernehmen: sehr nett. Unweit von Uelzen zelten wir auf der Wiese des Wandervogelhofs in Reinstorf. Es gibt in einer Scheune eine einzige Dusche für ca. dreißig durchgeschwitzte Radfahrende. Das warme Wasser stammt aus einem gemauerten Zuber, unter dem ein Holzfeuer brennt. Wir nähren es fortlaufend: Jede*r bringt zum Duschen einen Holzscheit mit. Diese Rustikalität gefällt mir, und das Draußensein ist wunderbar.

Am Abend nach dem Essen beginnt die erste inhaltliche Diskussion im Plenum. Was haben wir uns heute vom Straßenrand so alles anhören müssen?
„Geht arbeiten!“
„Wieso habt Ihr so viel Urlaub?“
„Scheiß Grüne!“ 

In Frage gestellt wird unser Slogan: „Was ich gerne hätte – autofreie Städte!“ Werden damit Autofahrer*innen nicht schon ausgegrenzt bzw. angegriffen? Wir schwenken um auf: „Was ich gerne hätte – lebenswerte Städte.“ Lebenswerter werden unsere Städte auch dadurch, dass der Verkehr abnimmt, dass wir Flächen entsiegeln und die öffentlichen Verkehrsmittel zum Nulltarif angeboten werden. Das wäre großartig.

Von Reinstorf geht es nach Celle. Die Luft ist weiterhin warm und schwül. Jede Stunde machen wir eine Pause. Wir sitzen ermattet am Rand eines Seitenwegs im Schatten und reichen Schokolade und Plätzchen herum. Ich lege mich auf den Rücken und atme ein und aus. Dies ist keine Schönheitstour, denke ich, sondern eine politische Demonstration. Wir verlangen uns einiges ab.

Patrick, der ehemalige Stadtführer aus Hamburg, fährt an meiner Seite, bis der erste Halt uns trennt. Wir müssen den Autoverkehr, der sich hinter uns aufgestaut hat, vorbeiziehen lassen. Die Polizei winkt uns auf einen Seitenweg. Jetzt ziehen die Autos vorbei. Einige Fahrer*innen geben ordentlich Gas und zeigen so, was sie von uns halten. Eingehüllt in eine Abgaswolke skandieren wir: „Lust und Liebe, keine Stickoxide!“

Höhepunkt der TdV ist zweifelsfrei Wolfsburg, die Autostadt, Synonym für die Volkswagen AG. Als wir bei strahlendem Wetter einrollen, sind wir schon eine Woche unterwegs und freuen uns auf den als Ruhetag deklarierten Sonntag. Doch daraus wird nichts. Die Aktivist*innen vor Ort haben viel mituns vor und empfangen uns mit weitreichenden Forderungen: „Damit in Wolfsburg nicht nur Autos fahrn, baun wir eine Straßenbahn.“

Tatsächlich haben sie auf einem Lastenbike ein gigantisches Transparent mit einer lebensgroßen Straßenbahn mitgebracht. Das wird von uns vor einem der VW-Werkstore entfaltet. Die Polizei ist präsent und beobachtet jede unserer Bewegungen. Hier stehen wir nicht mehr auf einem grünen Acker oder einer Weide wie in der Wesermarsch. Hier stehen wir vor der zweitgrößten Automobilfabrik der Welt. Hier stehen wir vor Eigentum – und hier zeigt der kapitalistische Staat seine Zähne. 

Sonntag, der Ruhetag wird zum Aktionstraining im Aktions- und Projekthaus Amsel44 in Wolfsburg. Die Fragestellung der Wolfsburger Aktivist*innen lautet: „Wie kann die Transformation der zweitgrößten Automobilfabrik der Welt gelingen?“ Antwort: Indem die Straßenbahn zum Verbindungselement zwischen Stadt und Umland wird. Voraussetzung dafür sei, dass der Ort mindestens 60.000 Einwohner*innen hat, dann funktioniere ihr Transformationskonzept und VW sei gerettet. VW steht für sie bereits für Verkehrswende.

Die erste Woche ist warm und sonnig. Der Spätsommer verwöhnt uns mit milden, sonnigen Tagen. In der zweiten Woche fällt die Temperatur nachts unter 14 °C, und das fühlt sich richtig kalt an. Es fällt mir immer schwerer, mich nachts im Schlafsack kuschelig warm zu fühlen. Ich hätte wohl den etwas dickeren Schlafsack einpacken müssen. Nach Wolfsburg scheint sich die Gruppe halbiert zu haben. Einige haben uns verlassen, aber andere sind dazugekommen. Sie werden freudig begrüßt. Es ist wie ein Staffellauf. 

Jetzt geht es in den Osten, nach Sachsen-Anhalt und später durch Brandenburg. In der vorausgegangen TdV 2022 wurden der Gruppe Glasscherben auf die Straße geworfen. Also mache ich mich auf alles gefasst. Gibt es statt zurückhaltender Zustimmungjetzt handfeste Ablehnung? Ich werde sehen. Die Bundesstraßen sind links und rechts von Leitplanken eingefasst und führen monoton von einer Ortschaft zur nächsten, immer geradeaus. Es gibt kaum Stellen, an denen wir die Straße verlassen können. So kommt es zu einigen gefährlichen Überholmanövern, bis wir die Polizei überzeugen können, dass es so nicht funktioniert. Sie verbessern ihren Dienst.

Unser Motto: „Was ich gerne hätte – lebenswerte Städte“, skandieren wir, wenn wir in eine Ortschaft einrollen, begleitet mit Pfeifen und Trillern. Meine Sirene gibt der Bewegung etwas Futuristisches, wenn ich mit „Ahui“ um die Ecken der mittelalterlich anmutenden Altstädte kurve. Die Passanten schauen verwundert auf, als wollten sie fragen: „Was kommt denn da?“ Ja, natürlich, das ist die Verkehrswende-Tour 2023.

Dass wir nicht gefährlich sind, erkennen sie spätestens in dem Moment, in dem sie unsere Teilnehmerin im Handbike erblicken. Sie fährt die ganze Tour mit einem Fahrrad, das allein über Handkurbeln angetrieben wird. Bei ihr ist es ein Rollstuhl mit vorgekoppeltem Antrieb. Was sie über die eingeschränkte Mobilität einer Rollstuhlfahrerin in Deutschland zu berichten weiß, verschlägt uns allen den Atem. 

Am 29. August erreichen wir Perleberg. Auf dem Weg dahin unterstützen wir durch unsere Anwesenheit die Forderung der ortsansässigen Aktivist*innen, Radwege parallel zur Bundesstraße zu bauen. Radfahrende müssen sich auf der Bundesstraße von rasenden Pkw überholen lassen und schweben dadurch latent in Lebensgefahr. Zur Erfrischung haben sie uns Mineralwasser bereitgestellt: sehr nett.

Wir durchqueren Sachsen-Anhalt. Niemand hat Glasflaschen auf den Asphalt geworfen. Stattdessen werden wir von örtlichen Politiker*innen herzlich empfangen und dürfen auf ihren gepflegten Sportanlagen übernachten und die sanitären Anlagen benutzen. Morgens lastet der Tau in schweren Tropfen auf den Zelten. Wer hat sein Zelt optimal nach der aufgehenden Sonne ausgerichtet, damit es bis zum Aufbruch getrocknet ist? Ich habe die Idee, ein Wettgeschäft einzurichten: Wen die aufgehende Sonne am Morgen als Ersten erreicht, hat gewonnen.

Bevor wir die Fontane-Stadt Neuruppin Richtung Oranienburg verlassen, werden wir vom Dezernenten für Stadtentwicklung im Sitzungssaal des Rathauses empfangen. Er spricht von Transformation des Stadtraums nach einem Masterplan, in dem eine neue Flächengerechtigkeit den Radfahrenden mehr Raum gewährt. Außerdem will er die Anbindung an Berlin durch einen 1/2-Stunden-Takt für die öffentlichen Verkehrsmittel verbessern, und am Bahnhof sollen 150 Fahrradabstellplätze geschaffen werden. Es seien übergeordnete Gesetze und Verordnungen wie die Straßenverkehrsordnung, die ihn ausbremsen, sagt der Dezernent, und wir glauben ihm.

Am letzten Morgen der Tour rollen wir von Oranienburg über Pankow in Berlin ein. Bereits in Oranienburg und an der Stadtgrenze stoßen weitere Radfahrende dazu und unterstützen den Tross. „Wir sind viele, wir sind laut, weil ihr uns den Radweg klaut!“, rufen wir in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf. Hier wurde ein bereits fertiggestellter Radfahrstreifen wieder zu Parkplätzen erklärt, indem der Bezirk die Fahrradpiktogramme mit gelben Streifen überkleben ließ. Nicht mit uns!

Endlich sind wir am Ziel. Als wir am Nachmittag der letzten Etappe den Invalidenpark neben dem Verkehrsministerium in Berlin-Mitte erreichen, stehen 899 km auf meinem Tacho. Nicht schlecht, das kann sich sehen lassen. Eine tiefe Erschöpfung steckt in meinem Leib, und braun gebrannt sind Gesicht, Hände und Schenkel. Ja, wir hatten sonnige Tage.

„Fährst du die ganze Tour?“, war immer die Frage, wenn Neue dazu kamen. „Ja, ich bin die ganze Tour gefahren“, sage ich jetzt stolz auf dem Camp der Verkehrswende allen, die mich fragen. Dann verabschieden wir mit netten Worten die Polizeibegleitung. Sie haben uns mit wechselnder Besetzung sicher zwei Wochen durch den Verkehr geleitet. Zwei Wochen ununterbrochen an der frischen Luft haben meinen Appetit befördert, und obwohl ich pausenlos aß, habe ich zwei Kilogramm verloren. Wow, ich habe neben all den politischen Gesichtspunkten auch noch an meinem Idealgewicht gearbeitet.

Einige der Tour-Teilnehmer*innen nehmen Jahresurlaub, um an der Tour de Verkehrswende teilzunehmen. Einige sind Wiederholungstäter*innen und können sich keine schönere Zeit vorstellen, als in dieser verschworenen Gemeinschaft für sinnvolle Verkehrsziele einzutreten, sich kennenzulernen, sich auszutauschen, sich zu vernetzen und draußen in der Natur zu sein.

Die Tour hat viele Aspekte. So haben wir die Forderungen der Bürgermeister*innen und Aktivist*innen aus allen Städten und Gemeinden, durch die wir geradelt sind, auf Ortsschildern gesammelt und nach Berlin getragen. Wir überreichen sie nun der Staatssekretärin Frau Christina Rohleder. Neben ihr steht unser Verkehrswende-Bär in seinem braunen Kostüm und hält die heitere Atmosphäre aufrecht, die uns durch die Wochen getragen hat. Auch ihn werde ich vermissen.

Als wir auseinanderdriften, spüre ich eindeutig einen Abschiedsschmerz. Ja, ich bin Teil der Tour de Verkehrswende gewesen, und die Trennung schmerzt. Alles fällt sich in die Arme: so viele glückliche Emotionen. „Ich komme wieder“, sagte Arnold Schwarzenegger als Terminator: Ich auch, und zwar als Verkehrswendeaktivist bei der TdV 2024.