Ein Jahr Mobilitätsgesetz

Was vom zivilgesellschaftlichen, verkehrspolitischen Aufbruch bislang auf der Straße ankam

Bei ersten Geburtstagen werden meistens nicht nur Geschichten von Stolz und Dankbarkeit erzählt, sondern eben auch über schlaflose Nächte, Erschöpfung, Überforderung und Frustration berichtet. Das erste deutsche Mobilitätsgesetz ist da keine Ausnahme. Changing Cities, der Trägerverein des Volksentscheid Fahrrad, berichtet auf seiner neu gelaunchten Website über das erste Jahr mit dem Mobilitätsgesetz in Berlin.

Der Volksentscheid Fahrrad hatte 2016 etwas erreicht, wovon die Zivilgesellschaft lange träumte: Mit politischem Druck von unten echte Veränderungen in der Verkehrspolitik durchzusetzen. Das erste deutsche Mobilitätsgesetz, das auf Initiative des Volksentscheids entstand, wurde vor einem Jahr nach langem Verhandeln verabschiedet. Zukunftsweisend wird hier nicht nur die städtische Mobilität neu definiert, sondern auch – auf Drängen der zivilgesellschaftlichen Akteure – eine Transformation der Verwaltung hin zu mehr Transparenz und Offenheit als Teil des Gesetzesvorhabens angeschoben. In den zwölf Jahren bis 2030 soll die Hauptstadt in eine lebenswertere Stadt mit tausenden von Kilometern Fahrradwegen, gut ausgebautem öffentlichem Nahverkehr und großflächig gefördertem Fußverkehr transformiert werden. Die Ziele sind ambitioniert und die Erwartungen dementsprechend hoch, dem Umweltverbund endlich die angemessene Priorität einzuräumen. 

Verkehrswende made in Berlin

Investitionen in nachhaltigen Verkehr machen seit Jahren weltweit die Runde. Gezielt versuchen Städte, den verkehrspolitischen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte als Folge des Dogmas der autogerechten Stadt etwas entgegenzusetzen. Bisher gilt allerdings in Deutschland trotz Dieselskandal, Flächenfraß, Dauerstau und Klimakrise: Das Auto wird als Teil der Lösung angesehen, nicht als Teil des Problems. 

Die Berliner Bevölkerung ist da einen Schritt weiter. Die Zuwachsraten des Radverkehrs in Berlin sind zum Teil zweistellig und auf 1.000 Einwohner*innen kommen inzwischen weniger als 350 Autos, einer der niedrigsten Werte in der Bundesrepublik. Mit der breiten Unterstützung der Ziele der Initiative Volksentscheid Fahrrad haben sich die Berlinerinnen und die Berliner 2016 gegen Lärm, schlechte Luft und für mehr Lebensqualität in der Stadt ausgesprochen. Vielleicht dämmerte es auch einigen Politiker*innen, dass schon allein auf den jährlichen Zuzug von etwa 40.000 Menschen eine verkehrspolitische Antwort gefunden werden muss. Jedenfalls war die Einladung der Initiative und weiterer relevanter Akteure zu einem partizipativen Gesetzgebungsprozess, dem Radverkehrsdialog, eine erste kluge Weichenstellung der damals frischen Koalition. Mit dem Mobilitätsgesetz hat die Berliner Verwaltung nun ein Werkzeug, mit dem sie eine verkehrspolitische Wende vollziehen können. 

Papier ist geduldig 

Nach der Verabschiedung des Gesetzes stellten die Bürger*innen mit Erschrecken fest: Es passiert nichts, zumindest nichts sichtbares auf den Straßen. Wie auch? 80 Radplaner*innen müssen erst gefunden und eingestellt, Ausführungsvorschriften verfasst werden. Aufbau und Neustrukturierung ist angesagt. Überall in den Verwaltungen wird angeblich geackert, aber fast nichts kommt bei den Berlinern und Berlinerinnen an. Es dauert immer noch 4 Jahre, bis ein Fahrradweg in Berlin fertig geplant und gebaut ist. Den Aktiven von Changing Cities ist aber klar: 2021 sind wieder Wahlen – bis dahin müssen sicht- und erlebbare Änderungen her, sonst verliert das Mobilitätsgesetz an Wirkung.

Also legten sie vor: Im Oktober 2018 präsentieren sie zusammen mit ADFC Berlin, BUND und VCD Nordost einen Entwurf für ein Radverkehrsnetz für Berlin und überreichen ihn dem Senat. Laut Zeitplan müsste das Radverkehrsnetz bereits jetzt, im Sommer 2019, fertiggestellt sein. Hier gibt es allerdings Verzögerungen wie auch beim Radverkehrsplan, der erst im Sommer 2020 fertig ist. Als weitere Hilfestellung für die Verwaltung bereitet Changing Cities  zusammen mit dem ADFC Berlin auf Basis der Verhandlungsergebnisse des ersten Radverkehrsdialogs 2017 34 Seiten über Standards und Maßnahmen für die Radinfrastruktur vor, die als Grundlage in den Verhandlungen über die Vorgaben für einen Radverkehrsplan einfließen sollten. Einerseits geht es dabei um konkrete Gestaltungshinweise zur Radinfrastruktur, wie die Breite und Oberfläche von Radwegen. Andererseits wird festgelegt, wann welche Maßnahmen ausgeführt sein müssen. 

Der Senat war wenig verhandlungsbereit – entgegen aller früheren Vereinbarungen – und kochte das Ganze auf wenige schwammige Formulierungen zusammen. Klare Vorgaben sollten nun erst später definiert werden und der Senat verzichtete auf verbindliche Zusagen. Changing Cities und ADFC Berlin riss im März der Geduldsfaden und sie verließen unter Protest die Verhandlungen, die der Senat de facto nicht geführt hatte. Denn ohne klare Vorgaben gibt es keine Handlungsgrundlage für Senat und Bezirke. Ohne sie werden die Planer*innen nun entweder gar nicht tätig oder sie handeln ins Blaue hinein. Ohne klare Vorgaben – wie z. B. Ausführungsvorschriften für Rad- und Gehwege – können die Ziele des Mobilitätsgesetzes nicht erreicht werden. Um die Vorgaben des Mobilitätsgesetzes einhalten zu können, müssen in Berlin bis 2030 durchschnittlich fast 700 Meter Radverkehrsanlage auf die Straße – pro Tag. Auch wenn der Senat nur Radverkehrsanlagen auf den Berliner Hauptstraßen errichten würde, müsste er fast 275 Meter pro Tag fertigstellen. 

Das Zuständigkeits-Pingpong, das die Berliner Verwaltung so gerne mit sich selbst spielt, ist aber nur ein Aspekt. Für die rot-rot-grüne Koalition ist es fatal, wenn eines ihrer ehrgeizigsten Projekte, die Verkehrswende, nur im Schneckentempo vorankommt. Es gibt Bezirke wie Reinickendorf, die sich tot stellen, in anderen mobilisiert der Gegner: In Lichtenberg gab es einen Aufschrei, als gerade mal zehn Parkplätze zugunsten eines halben Kilometers geschützten Radwegs wegfallen sollten. In Steglitz-Zehlendorf forderte der CDU-Fraktionschef gar den Rückbau des ersten geschützten Radweges im Bezirks! 

Auch das Thema geschützte Kreuzungen hängt in der Luft. Laut Mobilitätsgesetz hätten im ersten Jahr zehn Kreuzungen sicher gemacht werden müssen. Bisher wurde nur an zwei Kreuzungen das sicherheitsgefährdende Mittel der Fahrradweiche zum Einsatz gebracht, keine einzige wurde bisher grundlegend optimiert. 

Die politisch Verantwortlichen müssen den Bürgern und Bürgerinnen erklären, weshalb sie für eine Verkehrswende votiert haben. Sie müssen den Menschen erklären, dass Berlin 2030 beim jetzigen Wachstum etwa eine halbe Million Bürger*innen mehr versorgen muss, mit denen wir uns den öffentlichen Raum teilen werden. Der Senat muss massive Maßnahmen ergreifen, damit es nicht zum Mobilitäts-Infarkt kommt, zum Stillstand bei gleichzeitig steigenden Umweltbelastungen. Schon heute verursacht der Verkehr 23 Prozent des CO2-Ausstoßes – Tendenz steigend! Um die angestrebte neutrale CO2-Bilanz bis 2050 zu erreichen, muss hier radikal neu gedacht werden.

Es ist erforderlich, dass die bereits grob gezeichnete Mobilitätsvision für Berlin 2030 klar entwickelt wird. Das Mobilitätsgesetz ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Aber das wird nicht reichen: Es müssen Ziele für die Reduzierung des Kfz-Verkehrs definiert werden. Wie wollen wir den öffentlichen Raum nutzen, wenn die Parkplätze nicht mehr benötigt werden? Welche Klimaanpassungen sind erforderlich? Es darf nicht sein, dass die autogerechte Stadt immer noch weiter geplant und gebaut wird. 

Seit einem Jahr gilt in Berlin der Vorrang für Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehr – zumindest auf dem Papier. Dieser Vorrang ist ein großer Erfolg. Allerdings muss klar sein: Es geht hier nicht nur um den Bau von Radwegen. Laut IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, auf Deutsch oft „Weltklimarat“ genannt) müssen weltweit die CO2-Ausscheidungen bis 2030 um 50 Prozent gegenüber 2010 reduziert werden. Das bedeutet für Deutschland: eine Reduktion um satte 75 Prozent. Das ist keine freiwillige Verschönerungsmaßnahme, sondern überlebenswichtig. Wir können diese knappe Zeit nicht mit Diskussionen über den Sinn der Maßnahmen vergeuden. Wir müssen jetzt handeln – alle!

Ansprechpartner*innen für die Presse bei Changing Cities e.V.:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.de, 0171 535 77 34

Weiterführende Links:

PM Ein Radnetz für Berlin vom 12.10.2018

PM zum Abbruch der Verhandlungen vom 12.03.2019

Das Berliner Mobilitätsgesetz (mit Begründungen)

Bilder zur kostenlosen Nutzung für die Presseberichterstattung

Informationen zum Volksentscheid Fahrrad

Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürgerinitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

Über die Initiative Volksentscheid Fahrrad: Hinter dem Volksentscheid stehen Engagierte, Mobilitätsexpert*innen, Demokratie-Retter*innen und Fahrrad-Enthusiast*innen. Ein 10-Punkte-Plan des geplanten Gesetzes benannte konkrete Maßnahmen, jährliche Zielsetzungen und eine Umsetzungsverpflichtung innerhalb von acht Jahren. Der Volksentscheid Fahrrad wurde Berlins schnellster Volksentscheid: Der Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens wurde innerhalb von nur dreieinhalb Wochen von 105.425 Berliner*innen unterschrieben – 7 Prozent der Wählerstimmen. Die neue Koalition sagte daraufhin zu, alle Ziele und Forderungen zu übernehmen. Am 28. Juni 2018 verabschiedete der Berliner Senat Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz. Jährlich werden nun mehr als 50 Mio. Euro in die Radwege investiert.