Berlin darf nicht scheitern

Am 8. Dezember ist die rot-rot-grüne Koalition drei Jahre im Amt. Changing Cities e.V., der 2015 den Volksentscheid Fahrrad initiierte und so Vorläufer für bisher bundesweit 26 Radentscheide wurde, zieht Bilanz: Berlins Rolle in der Verkehrswende ist too big to fail.

Die rot-rot-grüne Landesregierung hat sich im Koalitionsvertrag den Pariser Klimazielen verschrieben. Mit dem ersten deutschen Mobilitätsgesetz (MobG) ist dieses Bekenntnis gesetzlich niedergelegt. Das Gesetz ist eines der wichtigsten Vorhaben des Berliner Senats, neben Wohnungspolitik und Digitalisierung, und zeichnet seit Juni 2018 den Weg für die Hauptstadt in Richtung Klimawende: Mehr Rad- und Fußverkehr sowie Ausbau des ÖPNV sollen Berlin zu einer lebenswerteren Stadt machen. Doch die Verkehrswende stellt eine immense Herausforderung dar.

„Die Verkehrs- und Klimakrise ist noch immer kein gemeinsames Projekt des gesamten Senats, aber eine Verkehrswende kann man nicht nebenbei umsetzen. Sie erfordert nicht nur das regelmäßige Bekenntnis sondern das rasche, zielgerichtete Handeln des gesamten Senats, einschließlich des Regierenden Bürgermeisters. Bis heute agiert Senatorin Regine Günther mehr schlecht als recht, um die Nachhaltigkeit im Verkehrssektor als oberste Priorität durchzusetzen. Dabei ist es entscheidend, dass Berlin seine Rolle als Vorreiter nicht verliert. Ganz Deutschland schaut nach Berlin – wir dürfen nicht scheitern!“, so Inge Lechner von Changing Cities.

Was muss in Berlin bis 2030 passieren?

Das Mobilitätsgesetz legt fest, dass sichere, komfortable und vor allem attraktive Radverkehrsanlagen in großem Stil gebaut werden sollen, um möglichst viele Menschen zum Umsteigen zu bewegen. Im Einzelnen sind das bis 2030:

  • Radschnellverbindungen, ca. 130 km
  • Ein lückenloses Netz für Radfahrende, bestehend aus
    • Radverkehrsanlagen an Hauptverkehrsstraßen, ca. 1.600 km 
    • Fahrradstraßen/Nebenstraßen, ca. 935 km
    • Sonderwegen, ca. 460 km
    • davon rund 1000 km als Vorrangnetz 
  • Sichere Kreuzungen, zehn im ersten Geltungsjahr des MobG, 20 im zweiten und 30 im dritten und allen folgenden Jahren.
  • Mindestens 100.000 sichere Fahrradabstellanlagen

Es geht also um die Verbesserung der Fahrradinfrastruktur auf ca. 3.100 von insgesamt 5.600 Straßenkilometern in Berlin. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen, ausgehend vom Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes bis 2030, pro Tag 700 Meter Radverkehrsanlagen errichtet werden. Von diesen selbst gesetzten Zielen ist Berlin wortwörtlich meilenweit entfernt.

Was ist bisher passiert?

In den ersten 1,5 Jahren seit Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes wurden – wohlwollend geschätzt – etwa 5 km neue oder qualifizierte Radinfrastruktur errichtet. Es wurden motivierte Planer*innen eingestellt. Derzeit wird eine Datenbank mit berlinweiten Radverkehrsprojekten aufgebaut und es gibt ein eifriges Bemühen, Planungszeiträume zu reduzieren. In Kürze wird es einen Leitfaden für Fahrradstraßen geben, einen weiteren für Einbahnstraßen und evtl. sogar einen für Baustellen. Bei vielen anderen Vorhaben – wie z. B. dem Radverkehrsplan – ist unklar, ob der gesetzlich vorgegebene Zeitplan eingehalten werden wird.  Derweil wurschteln auch nach 1,5 Jahren Teile der Verwaltung vor sich hin, ganz so, als gäbe es kein Mobilitätsgesetz. Einige Bezirke betreiben offene Obstruktion, um nicht zu sagen Sabotage, der eigentlich fälligen Maßnahmen.

„Allein bei Changing Cities sind seit 2015 rund 40.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden in die Verkehrswende in Berlin geflossen. Berlin hat mit dem Radentscheid und dem Mobilitätsgesetz eine Vorreiterrolle in Deutschland übernommen. Der rot-rot-grüne Senat hat das Privileg und die Verantwortung, diese Herausforderung anzunehmen. Das geht nicht, indem man sich dafür feiert, dass man die IAA nach Berlin holen möchte und gleichzeitig Verkehrspolitik allenfalls nebenbei betreibt“, kommentiert Denis Petri von Changing Cities. 

Bundesweit haben bisher knapp 700.000 Menschen mit ihrer Unterschrift für die Verkehrswende votiert. In vielen weiteren Städten und Gemeinden sind Initiativen entstanden, die auf kommunaler Ebene für eine Neuausrichtung der Mobilitätspolitik kämpfen. Das Schlüsselwort ist „Change Management“. Heute, nach drei Jahren Rot-Rot-Grün, bleibt in der Hauptstadt genau das auf der Strecke. Das kann und darf niemand wollen.

Veranstaltungshinweis: Heute Abend um 19 Uhr in der Stadtwerkstatt beginnt die MITTE AUTOFREI-Diskussionsrunde mit dem Vorsitzenden der grünen Bürgerschaftsfraktion Tübingens Christoph Joachim, der Hamburger Kommunalpolitikerin Eva Botzenhart, Heinrich Strößenreuther, Mitinitiator des Volksentscheids Fahrrad, Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister von Mitte und  Staatssekretär der Senatsverwaltung Verkehr Ingmar Streese. 

Ansprechpartnerin für die Presse bei Changing Cities e.V.:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, 0171 535 77 34

Weiterführende Links:

„Berlin war früher mal Vorbild“, Tagesspiegel vom 26.11.2019

PM Ein Radnetz für Berlin vom 12.10.2018

PM zum Abbruch der Verhandlungen vom 12.03.2019

Das Berliner Mobilitätsgesetz (mit Begründungen)

Bilder zur kostenlosen Nutzung für die Presseberichterstattung

Informationen zum Volksentscheid Fahrrad

Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürgerinitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

Über die Initiative Volksentscheid Fahrrad: Hinter dem Volksentscheid stehen Engagierte, Mobilitätsexpert*innen, Demokratie-Retter*innen und Fahrrad-Enthusiast*innen. Ein 10-Punkte-Plan des geplanten Gesetzes benannte konkrete Maßnahmen, jährliche Zielsetzungen und eine Umsetzungsverpflichtung innerhalb von acht Jahren. Der Volksentscheid Fahrrad wurde Berlins schnellster Volksentscheid: Der Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens wurde innerhalb von nur dreieinhalb Wochen von 105.425 Berlinern unterschrieben – 7% der Wählerstimmen. Die neue Koalition sagte darauf zu, alle Ziele und Forderungen zu übernehmen. Am 28. Juni 2018 verabschiedete der Berliner Senat Deutschlands erste Mobilitätsgesetz. Jährlich werden nun mehr als 50 Mio. Euro in die Radwege investiert.