Tour de Verkehrswende: Ragnhilds Tourbericht

#TourDeVerkehrswende

Finale Etappe: Potsdam – Berlin

13 Etappen und 600 Kilometer durch Deutschland sind geschafft. Wir kamen heute in Berlin an und ich schreibe diesen Blog-Beitrag nicht mit Stirnlampe im Zelt, sondern am Home-Office-Schreibtisch. Mir ist in den Innenräumen furchtbar heiß, mir fehlt das grandiose Essen der Fläming Kitchen und ich vermisse schon jetzt die vielen Menschen, die neben mir geradelt sind. Es waren Menschen dabei, die noch nie auf eine Demo waren, Menschen, die Changing Cities bisher nicht kannten, aber auch langjährigen Radaktivist*innen, die die StVO wortwörtlich zitieren können. Es waren Niederländer*, Wiener*, Dän*, aber auch Sendenhorster*, Dülmener*, und Magdeburger*innen dabei. Und es gab nebenbei auch Diskussionen über das Gendern… Die #TourDeVerkehrswende ist zwar in Berlin vor dem BMVI (in erwartbarer Abwesenheit von Herrn Scheuer…) angekommen, aber es fühlt sich heute anders an: Die Tour war kein Ereignis, das bundesweite Resonanz erfuhr. Sie war vielmehr eine zwischenmenschliche, lokalpolitische Aktion. Sie hat das Wesen von zivilgesellschaftlichem Engagement gezeigt: Wenn jede*r von uns zwei-drei Leute überzeugt, wenn jede*r von uns, den Spirit der Solidarität auf die Straße bringt, wenn jede*r von uns ein wenig auf die eigene Bequemlichkeit und angenommenes Recht verzichtet, dann können wir es schaffen. Die Verkehrswende von unten ist nicht nur möglich, sie ist vor allem eine große Bereicherung und eine Vision für eine echte Gemeinschaft. In den Städten, aber auch auf dem Land. Weil wir uns nicht egal sind.
Bis nächstes Jahr, bis #TourDeVerkehrswende 2022.
Allez le Bär!

Etappe 10: Brandenburg/Havel – Potsdam

Wie an kaum einen anderen Tag hat die Verkehrswende – bzw. deren Nicht-Existenz – die Tour geprägt. Während die ersten etwa 25 Kilometer von Brandenburg bis Werder landschaftlich geprägt waren, boten die letzten 15 Kilometer bis Potsdam vor allem Eins: Stau. Aber eins nach dem anderen. Bereits um 8:30 Uhr mussten wir uns von G. verabschieden, der seit Anfang dabei war und wegen des Bahnstreiks das Finale in Berlin nun leider verpasst. Es war ein Abschied mit Tränen, ein Vorgeschmack auf dessen, was uns morgen allen in Berlin bevorsteht. Nach 1,5 Jahren Corona wirkt die #TourDeVerkehrswende wie eine hochkonzentrierte Dosis Zwischenmenschlichkeits-Arznei, die Rücksicht, Offenheit, Freundlichkeit und Respekt face-to-face reaktiviert und stärkt. Eine „Nebenwirkung” sind Tränen… Begleitet von einigen Brandenburger*innen fuhren wir entspannt nach Werder. Da wir immer mit Polizeibegleitung auf der Fahrbahn fahren, sehen wir Spuren des motorisierten Individualverkehrs, die Radfahrende normalerweise gar nicht im Blick haben: Road Kill. Ich muss keine Einzelheiten erwähnen – ihr wisst schon, welche Tiere auf unseren Breitengraden frei rumlaufen: Rehe, Füchse, Tauben und andere Vögel, viele Tiere mit Fell und Igel, massenhaft Igel. Die Landstraßen sind nicht nur für Menschen am gefährlichsten…
In Werder empfing uns die Intitiative Verkehrswende Werder, mit denen wir nach einer Pause ganze sechs Mal den zentralen Platz umkreisten. Auch Menschen in Werder wollen, dass ihre Kinder sicher zur Schule fahren können und auch sie wünschen sich ein autofreies Zentrum – auf der hübschen kleinen Insel mitten in der Stadt. 15 Kilometer mehr oder weniger durch den Wald hatten wir nur noch vor uns bis Potsdam: Ein Klecks. Aber es erwartete uns eine Blechschlange von tausenden Pkw und Lkw, Stoßstange an Stoßstange, 15 Kilometer lang, alle mit laufendem Motor und schlecht gelaunten Fahrer*innen. Im Land der Pendler*innen keine Besonderheit, ein so banaler Teil des Alltags, dass es im Verkehrsradio wahrscheinlich nicht mal die Rede wert ist… Warum nehmen Menschen das hin? Warum verlangen sie nicht lautstark eine bessere Organisation von Mobilität – nachhaltiger und menschenfreundlicher? Es ist ihre Lebenszeit! Ich verstehe es nicht. Im Haus der Natur in Potsdam veranstalteten VCD Brandenburg und Nabu ein Wahlforum für uns und interessierte Potsdamer*innen. Bundestagskadidat*innen von SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die Linken waren den Aufruf nachgekommen und es wurde kontrovers über Verkehrswende, Natur- und Klimaschutz diskutiert. Wir freuen uns jetzt aber alle auf den Abschluss morgen – auf den Empfang in Berlin und die Abschlusskundgebung vor dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI). Ihr könnt uns hier auf unsere letzte Etappe begleiten: 
12:30 – Potsdam (Friedrich-Engels-Str. 22)
14:30 – S-Wannsee
15:45 – Scholzplatz
17:00 – BMVI 
Wir freuen uns so auf Euch!

Etappe 9: Magdeburg – Brandenburg/Havel

#TourDeVerkehrswende

Die längste Etappe der #TourDeVerkehrswende. 100 km bei 12–15 km/h bedeutet vor allem eins: viele, viele Stunden auf dem Sattel. Aber das Wetter war endlich mal wieder mit uns und das war auch nötig: Socken wurden auf dem Lenker getrocknet, Handtücher über das Gepäck gespannt und Pullover flatterten im Wind.  Ein Tag wie heute ist vor allem ein Tag der langen Gespräche. Und es ist die #btw21, die uns alle bewegt. Vier weitere Jahre des Stillstands und des Nichtstun wären katastrophal für den Planeten, das wissen wir. Aber wie schaffen wir den Schweizer Käse des Klimaschutzes, das Prinzip der Effizienz teils unperfekter Maßnahmen, das uns Corona gelehrt hat? #TourDeVerkehrswende und die sozialen Bänder, die zwischen den Hunderten von Teilnehmenden entstanden sind, ist in der Tat auf dem Weg so eine weitere Scheibe Schweizer Käse zu werden. Wir werden die letzten Tage nutzen, zukünftige gemeinsame Aktionen zu planen. In Brandenburg an der Havel erwarteten uns die Überraschung des Tages: Ein Konzert von Esels Alptraum. Während die Sonne unterging, unterhielten sie uns mit ihrem JOGIDA (Jodel-Offensive Idiotisierung durch Angst) – ein wunderbarer Ausklang eines sehr schönen Tages.

Etappe 8: Helmstedt – Magdeburg

Ich krieche morgens aus meinem Zelt und während noch die Nebelschwaden über das Waldbad wabern und ich mich für eine Pullover-Schicht mehr entscheide, schwimmen schon die ersten Helmstedter*innen ihre Bahnen. Das würde mich wahrscheinlich augenblicklich hellwach machen. Der warme Kaffee ist dann aber doch verlockender und ich gehe direkt zum Frühstück über. Anschließend schnell Zelt abbauen, Fahrrad beladen und los geht es auf die nächste Etappe. Kurz nach Helmstedt passieren wir die ehemalige Grenze zwischen BRD und DDR und dann geht es weiter über Landstraßen immer Richtung Osten. Ab und zu passieren wir mal ein Dorf. Einmal steht plötzlich eine recht große Gruppe Menschen an einer Straßenkreuzung und jubelt uns enthusiastisch zu. Wir wissen nicht, ob sie extra auf uns gewartet hatten oder zufällig dort waren. Aber es hat auf jeden Fall für gute Laune gesorgt. Die etwas monotone und dünn besiedelte Landschaft bietet derzeit aber zumindest interessante Lektüre: Die vielen Wahlplakate. In jedem Wahlkreis, den wir durchfahren, gibt es natürlich neue, die sofort diskutiert und ausgewertet werden. Auffallend ist, dass Klimaschutz und Verkehrswende eine große Rolle spielen. Leider werden die Themen oft sehr spaltend und populistisch für den Wahlkampf missbraucht. Am Nachmittag erreichen wir Magdeburg – nachdem uns die Polizei eine Runde um das Hundertwasserhaus herumgeführt hatte. Nicht, weil sie uns ein Wahrzeichen ihrer Stadt zeigen wollte, sondern weil sie das Büro des ADFC Sachsen-Anhalt nicht finden konnten. Franziska von der Initiative Magdeburger Radkultur kommt aber zufällig mit dem Rad um die Ecke und führt uns ans Ziel. Dort werden wir mit Getränken und selbstgebackenen Keksen in Fahrradform empfangen und haben ein wenig Zeit, uns mit den Aktivist*innen vor Ort über deren Projekte, wie den aktuell laufenden Radentscheid Magdeburg, auszutauschen. Außerdem laden uns die Oldies For Future ein, gemeinsam Klimabänder zu beschriften, die wir mit auf die Reise nach Berlin nehmen. Noch sind wir aber nicht an unserem Tagesziel angekommen. Von Magdeburg geht es noch einmal anderthalb Stunden weiter, bis wir nach 75 km an unserem Schlafplatz im Grünen ankommen. Dort dürfen wir heute in einem Naturcamp zwischen Feldern, alten Bäumen und einer großen Streuobstwiese zelten.

Etappe 7: Braunschweig – Helmstedt

Der Regen ist jetzt wohl unser ständiger Begleiter und ich befürchte, dass er es bis Berlin bleiben wird. Ich bin erstaunt, wie gut gelaunt und motiviert die Teilnehmenden trotz allem weiterhin sind. Alle scheinen fest entschlossen, die Verkehrswende-Botschaft bis nach Berlin zu bringen. Heute mussten wir zumindest nur 40 km hinter uns bringen, was verglichen mit den gestrigen 90 km nach einer Spazierfahrt klingt. Doch die hatten es in sich. Es ging durch den Naturpark Elm-Lappwald, der zwar wunderschön ist, dessen Höhenprofil dann aber doch nicht so viel Erholung brachte, wie erhofft. Trotzdem schließen sich wieder neue Leute unserer Tour an und am frühen Nachmittag erreichen wir auch schon unser Tagesziel Helmstedt. Es wird nicht langweilig, was unsere Übernachtungsorte angeht. Heute schlagen wir unsere Zelte in einem Waldbad auf. Ich komme zwar völlig durchnässt an und Wasser ist nicht unbedingt das, wonach ich mich gerade sehne. Aber trotzdem (oder vielleicht auch deswegen) springe ich kurz ins Schwimmbecken. Wenn man schonmal ein ganzes Freibad nur für sich hat. Floki hingegen geht nicht einfach nur baden, sondern Protest-Baden für die Verkehrswende und rutscht mit unserer Tour-Fahne und einem „Allez le Bär“ medienwirksam ins Schwimmbecken. Kurze Zeit später bekommen wir Besuch vom Bürgermeister Helmstedts, nach dessen Rede wir nun unerwartet detailliert über die Geschichte der Stadt Bescheid wissen. Auch der Vorstand des Fördervereins Waldbad Birkerteich begrüßt uns persönlich. Wir sind dem Verein dankbar für diesen tollen Ort, genauso wie für all die anderen Orte, an denen wir im Laufe unserer Tour übernachten dürfen. Auch das ist eine wichtige Unterstützung, ohne die diese Art des Protests nicht möglich wäre. Jetzt muss ich meinen Blog schnell fertig schreiben, denn ich will auf keinen Fall das heutige Abendprogramm verpassen. Im Ort gibt es ein kleines Kino, das genau die Größe hat, damit unsere ganze Gruppe gerade so reinpasst. Wir sind alle sofort von der Idee begeistert, auch wenn niemand so richtig weiß, worum es in dem Film eigentlich geht. Aber es werden zwei sehr schön warme und trockene Stunden sein.

Etappe 6: Hannover – Braunschweig

Eine Woche sind wir nun schon unterwegs und haben heute die bisher härteste Etappe hinter uns gebracht: 90 km mit wechselhaftem Wetter, also Wechsel zwischen leichtem, mittlerem und starkem Regen. Na gut, kurz kam die Sonne raus, woraufhin alle freudig ihre Regensachen wieder in den Satteltaschen verstauten, nur um sie 10 Minuten später hektisch wieder rauszuholen, als der nächste Regenguss plötzlich herabprasselte. Dieser hielt dann auch bis zur Ankunft in Braunschweig an. Doch wir radelten tapfer Kilometer für Kilometer weiter über die Landstraßen, warteten geduldig 10 Minuten im strömenden Regen an der Bahnschranke, und dann nochmal 10 Minuten, weil es nur die halbe Gruppe geschafft hatte, vor dem nächsten Zug die Gleise zu überqueren. Auch weitere Zwischenfälle wie ein (zum Glück glimpflicher) Sturz mit dem Lastenrad und ein Speichenbruch, hielten uns nicht davon ab, unsere Protesttour fortzusetzen. Gerettet hat uns im Fall des Speichenbruchs, dass wir als Fahrradaktivist*innen natürlich gut vernetzt sind. Ein Anruf bei einer befreundeten Selbsthilfewerkstatt in Braunschweig und Markus setzt sich auf sein Rennrad und bringt uns genau die Teile, die wir brauchen. Nur durch diese Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft ist unsere Tour möglich. Dasselbe kann man wohl auch für die Verkehrswende sagen – und so steht diese Tour symbolisch auch für die tollen Menschen, die sie vorantreiben. Gestern und heute sind einige gegangen und wieder andere dazugekommen. Auch wenn wir uns erst seit ein paar Tagen kennen, ist der Abschied jedes Mal schwerer als erwartet. Fahrradfahren und die gemeinsame Sache verbinden eben. Aber zurück nach Braunschweig: Diesmal wurde eine Schule in ein Zeltlager umfunktioniert und ich freue mich auf die Nacht im Trocknen. Doch vor dem Schlafen steht der tägliche Höhepunkt an: Das mittlerweile legendäre Essen der veganen Aktionsküche Fläming Kitchen, die uns die ganze Tour über begleitet und mit ihrem sensationell leckeren Essen dafür sorgt, dass wir trotz des vielen Radfahrens wahrscheinlich mit ein paar Kilo mehr statt weniger auf den Rippen in Berlin ankommen werden. Während ich in der Schulkantine zwischen Zelten und improvisierten Wäscheleinen diesen Blog schreibe, findet übrigens gerade Speed-Dating statt. Aber keine Angst, wir sind auf der Tour nicht einsam geworden. Floki und Lea hatten nur eine lustige Idee für das Kennenlernen mit den Braunschweiger*innen, die uns heute Abend besuchen 😉

Ruhetag: Hannover

Der erste und einzige Ruhetag unserer Tour neigt sich dem Ende. Obwohl ich „Ruhetag“ eigentlich in Anführungszeichen schreiben muss, denn so ganz still sitzen können Aktivist*innen wahrscheinlich nie. Nach dem Frühstück hieß es erstmal ab zum Waschsalon. 6 Tage Radfahren bei Sonne, Wind und Regen liegen hinter uns, 7 Tage vor uns, und wenn das Gepäck mit Muskelkraft transportiert werden muss, hält man die Menge an Klamotten besser begrenzt. Wahnsinn, wie gut sich trockene und frisch gewaschene Kleidung plötzlich anfühlt! Kleiner Spoiler: Trocken werden sie heute nicht lange bleiben. Denn ein Tag ohne Demo ist ein verlorener Tag (zumindest auf der Tour de Verkehrswende) und ein bisschen Regen wird uns nicht vom Demonstrieren abhalten. Und so geht es anschließend erst zum Klimacamp von Fridays For Future Hannover, wo junge Menschen so lange vor dem Rathaus campen, bis die Stadt endlich echten Klimaschutz macht. Danach treffen wir Engagierte von HannovAIR, der Initiative, die den heutigen Protest organisiert. Sie richtet sich gegen den Ausbau des „Südschnellwegs“ zu einer Autobahn. Also noch mehr motorisierter Verkehr, Lärm für die Anwohnenden und Zerstörung von Flora und Fauna statt Verkehrswende und Klimaschutz. Da kommen wir mit unserer Erinnerung an das Pariser Klimaabkommen und an den aktuell stattfindenden nachhaltigen Umbau von Paris gerade richtig. Selbstverständlich solidarisieren wir uns mit den Aktivistys vor Ort und schließen uns der Fahrraddemo über den Südschnellweg an. Trotz Regenschauern sind wir Teil von etwa 1000 Menschen, die „Wald statt Asphalt“ und „Verkehrswende JETZT“ rufen und rollend gegen die autozentrierte Politik protestieren. Ich erinnere mich an die Demos gegen den Ausbau der A100 oder der Tangentialen Verbindung Ost in Berlin und merke wieder einmal, wie ähnlich die Themen und Konflikte überall in Deutschland sind. Und wie wichtig daher die Vernetzung und Solidarisierung innerhalb der Bewegung ist ‒ und damit unsere Tour. Doch damit ist der Tag nicht beendet. Denn heute ist der letzte Freitag im Monat. Und Fahrradaktivist*innen wissen, was das bedeutet: Critical Mass. Der Regen ist mittlerweile in Sintflut übergegangen. Dennoch gibt es ein paar Hartgesottene, die sich der spontanen Radtour durch Hannover anschließen. Ich fahre zurück in die „Burg“, unsere Unterkunft, wo ich zwischen Tinyhouse-Bastler*innen, Cello-Spieler*innen und Banner-malenden Klimaktivist*innen noch schnell meinen Tour-Blog tippe. Die nähere Beschreibung der „Burg“ würde den Rahmen dieses Reiseberichtes sprengen und ich überlasse sie daher eurer Fantasie. Ich bin auf jeden Fall etwas traurig, diesen spannenden Ort morgen wieder verlassen zu müssen. Freue mich aber auch auf die neuen Abenteuer der nächsten Etappen. / Foto: Michael Wallmüller

Etappe 5: Hameln – Hannover

Endlich konnten wir ausschlafen! Erst um 11 Uhr fuhr die Gruppe los, beim strahlenen Sonnenschein und mit gutem Rückenwind. Ausschlafen war trotzdem nicht, ein Hund in der Nähe glaubte, er sei ein Hahn und bellte fröhlich ab 6:30 Uhr. Letzter Check vor der Abfahrt: eine volle rote Brotbox wurde vergessen – war natürlich meine! Es ist kein gutes Zeichen, wenn eine Radfahrerin ihr MITTAGESSEN vergisst. Denn ohne Kalorien wird eine Etappe schnell verdammt lang und ungemütlich. Aber auch mit Mittagessen war der Mittelteil der heutigen Etappe mittelprächtig. Was mit ein paar unschuldigen Tropfen anfing („Ach, ist nur eine Schauer!“), entwickelte sich schnell zu einem 1,5-stündigen Sturzregen mit Donner, Blitz und dem ganzen Programm. Da hilft nur eins: Singen und Lachen. Asynchron genießen, heißt den Moment immer im Kontext der Zukunft zu erleben: Irgendwann wird der Regen ja aufhören. Bei der Pause in Bennigsen bei Springe waren wir nicht nur nass, wir waren alle komplett durch. Aber als uns der Bürgermeister begrüßte und seine Begeisterung für das Fahrrad und die Tour de Verkehrswende zeigte, fing die Sonne wie auf Knopfdruck wieder an zu scheinen. So konnten wir zwar nicht trocken, aber immerhin nicht mehr frierend die letzte Strecke nach Hannover radeln. Wieder war Zeit für lange Gespräche mit den anderen Teilnehmer*innen über Verkehrspolitik, über Podcasts, über Kinder, über Radentscheide und über gemeinsame Freund*innen und Bekannte. Die Truppe besteht aus Menschen zwischen vier und Ende Siebzig und die Tour ist eine einmalige Gelegenheit, Menschen intensiv über viele lange Kilometer auf der Landstraße kennenzulernen. Wir spinnen schon herum, wie wir dieses Potenzial im Herbst in der ganzen Bundesrepublik auf die Straße bringen können. Die Tour entwickelt sich mehr und mehr zu einem fahrenden Brainstorming für die Verkehrswende von unten. Als wir in Hannover bei unserem Schlafplatz ankamen, waren wir alle stolz, diesen mittelprächtigen Tag überstanden zu haben: Wir wissen alle, dass wir hier nicht zum Spaß sind. Obwohl es sehr viel Spaß macht.

Etappe 4: Bielefeld – Hameln

Nach der ersten (und einzigen) Bergetappe der Tour de Verkehrswende wissen wir: Wenn die Polizei immer so offen, kompetent und kooperativ wie die Bielefelder wären („Wir wollen keine überemotionalisierten Autofahrer”), ließen sich viele Konflikte im öffentlichen Raum viel zielführender lösen. Aber zurück zum Start: Wir fuhren heute etwas früher los, um in Leopoldshöhe den dortigen Bürgermeister zu treffen. D.h. die anderen fuhren etwas früher los, ich musste erst ein paar Schreibarbeiten für Changing Cities erledigen und strampelte dann ordentlich durch eine sehr, sehr schöne hügelige Landschaft mit alten Höfen und Gütern, um die Gruppe in Lemgo einzuholen: Beim Baden in der idyllischen, aber eiskalten Weser. Ein weißes Zelt mit einer COV-19-Teststation direkt am Fluss zeigte komplett unmetaphorisch, wie schwierig es geworden ist, einfach den Moment mit anderen Menschen zu genießen. Bei der Tour de Verkehrswende haben wir von Anfang an 3G praktiziert: Teilnehmen darf nur, wer geimpft, genesen oder täglich (negativ) getestet ist. Schließlich fahren wir durch das Bundesland mit der höchsten Inzidenz und begegnen täglich viele lokale Aktivist*- und Politiker*innen. Jede*r schläft im eigenen Zelt, es herrscht im Grunde Maskenplicht, in dem Moment man vom Rad absteigt. Um so schöner ist es, dass wir uns jeden Tag Stunden auf dem Rad befinden. Es ist ein kleines Stück soziales Glück mitten in der Pandemie. Der heutige Höhepunkt war einerseits der sehr anstrengende Anstieg etwa 20 km vor Hameln, andererseits die überraschende Anwesenheit vom Rattenfänger in der Stadt. Mit ein paar Tönen auf seiner Flöte schloss er sich unserer Demo an – selbstverständlich auf dem Lastenrad. Normalerweise kann man mich mit Mittelalterdarsteller*innen aus jeder Stadt jagen, aber wenn man diesen Rattenfänger erlebt hat, versteht man, warum jährlich zwei Millionen Tourist*innen Hameln besuch(t)en. Mit Witz und einer gesunden Portion Anarchie zeigte er uns die Altstadt und schimpfte währenddessen über die Blechdosen der Neuzeit. Herrlich!

Etappe 3: Sendenhorst – Bielefeld

Es gibt nicht nur viel zu viel Gegenwind in Deutschland für die Verkehrswende, auch für Verkehrswende-Aktivist*innen bei der Tour de Verkehrswende gab es heute etwas zu viel desgleichen. 75 km standen auf dem Programm, welche eigentlich eine passende Anzahl Kilometer wäre, wenn es um den täglichen Ausbau der Radwege in Deutschland ginge. Für die Tour de Verkehrswende war das unsere bisher längste Etappe. Kurz nach dem Start verloren wir im Wind die orange Changing-Cities-Fahne. Klar: Der Gegenwind war schuld! Auch nach einer längeren Suche haben wir sie nicht wiedergefunden – als Alternative dient jetzt eine Regenjacke als Fahne. Dafür haben wir ab heute einen Besenwagen: Der Velomobil kümmert sich um diejenigen, die aufgrund einer Pinkelpause oder einer verlorenen Fahne den Anschluss an die Hauptgruppe verloren haben. Mit bis zu 100 km/h flitzt er allen hinterher – außer er hat wie heute den zweiten Platten der Tour. Die Strecke bot heute viel schöne Landschaft, ein paar Gutshöfe und das beste: einen Erdbeerhof als Rastplatz. In einer kleinen Bude gab es Himbeeren, Erdbeeren, Brombeeren, Kirschen und Heidelbeeren. Einen köstlicheren Snack gibt es nirgends. Ein weiterer Polizeiwechsel (immer am Kreisende!) fand auf einem Hof statt, auf dem die Besitzerin uns freundlich begrüßte, uns Wasser schenkte und die Benutzung ihrer Toilette anbot. Und wir waren ja nicht als Pärchen unterwegs, sondern fast 40 Leute! Auch dies ist eine Spielart der Verkehrswende: Offen und freundlich gegenüber andere Reisende sein. In Bielefeld angekommen wurden wir vor dem Rathaus vom Oberbürgermeister Pit Clausen (SPD) begrüßt, der auch unseren Eiffelturm unterzeichnete. Der Radentscheid Bielefeld begleitete uns und wir tauschten uns lange über die Vor- und Nachteile des Bielefelder Weges aus: ein fünfjähriger Vertrag mit der Stadt, der die Verwaltung verpflichtet, in den nächsten fünf Jahren die elf Ziele der Initiative umzusetzen.

Etappe 2: Haltern am See – Dülmen – Sendenhorst

Die zweite Etappe unserer Tour de Verkehrswende führt uns nun nicht mehr durch den urbanen Ruhrpott, sondern durch Felder und Dörfer. Wie jeden Tag schließen sich uns auch heute wieder neue Radfahrendende an. Von Haltern am See geht es zunächst nach Dülmen, wo wir auf dem Markplatz schon vom stellvertretenden Bürgermeister, dem lokalen ADFC und einem Chor der Omas For Future empfangen werden. Nach der obligatorischen kleinen Tageskundgebung geht es weiter. So langsam beginnen meine Beine die Kilometer zu spüren. Doch da einem auf solch einer Tour die interessanten Gesprächspartnerinnen nie ausgehen, bin ich fast überrascht als nach 65 km plötzlich das Ortsschild von Sendenhorst auftaucht. Nachdem wir die letzte Nacht viel zu nah an der Autobahn übernachtet haben, freue ich mich auf den Zeltplatz im Pfadfinderlager, wo nur die Grillen zu hören sind. Bevor wir aber in unsere Zelte kriechen dürfen, steht noch das Podiumsgespräch mit den beiden lokalen Bundestagskandidaten Henning Rehbaum von der CDU und Bernhard Daldrup von der SPD an. Auch die lokale Bevölkerung ist eingeladen. Ich finde es spannend zu erleben, dass auch die Menschen im ländlichen Raum nicht abhängig vom Auto sein wollen und Lösungen von der Politik einfordern. Es wird jedoch schnell klar, dass die Debatten überall in Deutschland sehr ähnlich sind und auch die Positionen der Parteien keine Überraschungen bieten. Und ich lerne, was ein „Bürgerradweg“ ist: Die finanziellen Mittel werden vom Staat bereitgestellt und die Bürgerinnen bauen den Radweg selbst. Ehrenamtlich. Ich frage mich, was passieren würde, wenn von den Bürger*innen verlangt würde, ihre Autoinfrastruktur selbst zu bauen. Aber ich habe keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil mich der nächste Satz des CDU-Kandidaten irritiert: „Das Fahrrad ist hier Alltagsverkehrsmittel, nicht ideologiebeladen.“ Ob er sich mit „ideologiebeladen“ auf unsere Radtour von Essen nach Berlin bezieht? Er sagt auch „Gute Mobilität kostet Geld“. Ob er weiß, mit wie viel die Autoindustrie jährlich subventioniert wird und wie viel sie die Allgemeinheit kostet?
Der SPD-Kandidat ist immerhin mit dem Fahrrad gekommen. Und sagt, es sei wichtig „dass das Fahrrad zum alltäglichen Verkehrsmittel wird.“ Aber sehr groß unterscheiden sich seine Ansichten nicht von denen seines Diskussionspartners. Von beiden kommen viele schön klingende Sätze, aber kaum etwas Konkretes. Wir hoffen, den Menschen vor Ort etwas Mut und Unterstützung für das Einfordern der Verkehrswende gebracht zu haben. Denn wie überall gilt auch hier, es braucht den Druck von unten, damit etwas passiert.

Etappe 1: Essen – Marl – Haltern am See

Noch nie habe ich in einer Handballsporthalle übernachtet. Noch nie habe ich beim Bewegungslicht geschlafen, das angeht, wenn man sich im Schlaf zu zügig umdreht. Noch nie habe ich einen Platten vor gehabt, bevor ich überhaupt los gefahren bin. Alle drei Ereignisse passierten mir im Essen. Trotzdem war es ein wunderbarer Tag. Aber es gab mehr Sonderheiten:
In NRW erhalten Raddemonstrierende nur eine Autospur und müssen auch ab und an auf Radwege ausweíchen. Natürlich fährt dann auch die Polizei mit auf dem Radweg, während die Autos schön ungestört weiterfahren können. In Sachen Verkehrswende war das Interesse heute groß: WDR Fernsehen und Hörfunk waren bereits morgens dabei, im Haltern am See begleiteten uns jeweils die Haltener Zeitung und das Lokal TV. Im Marl gab es eine Bühne von ADFC mit Redebeiträgen u.a. vom Herrn Prof. Dr. Frithjof Küpper, Meeresbiologe und aktiven Unterstützer des Marler Radentscheids. Den ganzen Tag begleiteten uns die Themen der vielen NRW-Radentscheide: Nicht nur Aktivist*innen machen sich Gedanken und formulieren politische Forderungen. Auch interessierte Bürger*innen äußerten ihre Frustration darüber, dass z.B. neuerdings in Marl einen geteilten Fuß- und Radweg wieder für den Autoverkehr freigegeben wurde. Gerade jetzt in Zeiten der Klimakrise sind solche Maßnahmen einfach nicht mehr nachvollziehbar. Es ist eine wirkliche Freude, diesen Menschen lokal den Rücken zu stärken. Aber auch unter den Teilnehmenden der #TourDeVerkehrswende spüren wir Zustimmung: Mehr und mehr Leute, die sich bisher nur für Teilstrecken entschieden haben, melden sich bereits am ersten Tag für die ganze Strecke bis zum BMVI an. Sie spüren, dass Changing Cities einen Unterschied macht und wollen Teil der Bewegung sein. Einfach nice!

Night Ride in Essen

Viereinhalb Stunden dauert die Fahrt mit dem ICE von Berlin nach Essen. 13 Tage brauchen wir mit dem Rad in die umgekehrte Richtung: Vor uns liegt die #TourDeVerkehrswende, mit der wir für nachhaltige, menschenfreundliche Mobilität quer durch Deutschland demonstrieren. Der Auftakt in Essen mit dem Radentscheid führte uns durch die ehemalige Kohlestadt. Der Abend war sommerlich warm, die Menschen auf der Straße und von den Balkons begrüßten uns freundlich und interessiert. Es ist schon jetzt klar: Der Eiffelturm, den wir als Symbol für die Pariser Verkehrswende und die Klimaziele mitführen, weckt Aufmerksamkeit und lädt einfach zum Gespräch ein. Wir freuen uns alle so darauf, morgen früh loszufahren. Über ein Jahr haben wir die Tour konzipiert und geplant. Endlich können wir los, endlich können wir mit Politiker*innen und Bürger*innen über die notwendige Verkehrswende sprechen und sie auf die gesellschaftliche Breite der Radbewegung aufmerksam machen. Besonders in NRW, wo zur Zeit ein Moblilitätsgesetz verhandelt wird – ein erster Schritt für eine Neuausrichtung der Mobilität im größten deutschen Bundesland. Denn bereits nach nur einer kurzen Night Ride durch Essen ist klar: Es gibt hier so unglaublich viel zu tun, damit die Menschen sicher und komfortabel Rad fahren können…