Tour de Verkehrswende 2023 – ein Rückblick

Fahrgemeinschaft für ide Zukunft. Changing Cities. Bremerhaven, Oldenburg, Bremen, Rotenburg, Buchholz, Lüneburg, Uelzen, Celle, Wolfsburg, Salzwedel, Perleberg, Neuruppin, Oranienburg, Berlin. Gelbe schrift auf lila Textil

14 Tage, 800 Kilometer, unzählige Geschichten: Vor zwei Monaten ist die Tour de Verkehrswende in Berlin angekommen. Erhard Georg berichtet von seiner Reise für die nachhaltige Verkehrswende

Ein persönlicher Tourbericht

Nun ist auch die dritte Tour de Verkehrswende (TdV) Geschichte.

Unter dem Motto „Fahrgemeinschaft für die Zukunft“ radelten die Teilnehmenden diesmal von Bremerhaven nach Berlin. Die von der Berliner Initiative Changing Cities ins Leben gerufene Tour wurde dieses Jahr von den Mitfahrenden selbst organisiert. Die Strecke führte uns über 800 Kilometer kreuz und quer durch die norddeutsche Tiefebene. Wir waren 14 Tage lang unterwegs, mit einem Ruhetag in Wolfsburg. Die Tagesetappen waren zwischen 60 und 80 Kilometer lang und dank der fehlenden Höhenmeter für alle relativ leicht zu bewältigen.


Alle: Das waren täglich wechselnd zwischen 30 und 150 Radelnde, darunter eine Rollstuhlfahrerin mit Handbikeantrieb, die die gesamten 800 Kilometer mitgefahren ist. So erlebten wir hautnah, wie behinderte Menschen auf unseren Straßen, Wegen und Plätzen, in Gebäuden und Anlagen eingeschränkt werden und wie nerven- und kräftezehrend es ist, diese Einschränkungen zu erdulden oder zu umfahren.
Alle: Das war ein neunjähriger Junge, der in Begleitung seines Vaters von Bremerhaven bis Wolfsburg mitfuhr und von Tag zu Tag selbstbewusster wurde – anfangs wich er seinem Vater nicht von der Seite. Doch Aufgeschlossenheit und Selbstbewusstsein wuchsen bei dem Jungen zusehends. Die Entwicklung dieses Kindes mitzuerleben, gehörte zu meinen persönlichen Highlights dieser Tour.

Alle: Das waren Radelnde mit Fahrrädern ohne Gangschaltung, mit Falträdern, Lastenrädern, Rennrädern, Velomobilen, Gravelbikes, Liegerädern, Tandems und, und und – von ultrateuer bis selbstgebaut.

Auch dieses Jahr übernachteten wir auf ausgewählten Sportplätzen, Bauernhöfen oder in Hallen.

Auch dieses Jahr begleitete uns das Küchenmobil und verwöhnte uns morgens und abends mit veganen Mahlzeiten. Koch, Fahrer und Hilfskoch waren bereits das dritte Mal dabei: ein tolles Team, mit dem wir jedes Mal viel Spaß haben.

Wie immer wurde die Tour als Demonstration durchgeführt und somit von der Polizei begleitet und geschützt. Das Verhalten der Polizist*innen uns gegenüber war unterschiedlich, aber stets mit guter Kommunikation. Manchmal war den Beamten der ungestörte Fluss des Autoverkehrs wichtiger als die Unterstützung unserer Anliegen. Gelegentlich mussten wir auf Radwege ausweichen oder wurden auf einen Parkplatz gelotst, um die Autoschlange, die sich hinter uns gebildet hatte, vorbeizulassen. So wurden beispielsweise 50 Radfahrende zum Halt gezwungen, um 25 Autofahrenden das Vorwärtskommen zu erleichtern.

Wir Teilnehmenden haben alles für die Sicherheit und das Miteinander im Straßenverkehr getan. Wir fuhren in Zweierreihen auf der rechten Fahrspur mit mindestens einem Meter Abstand zur Mittellinie. Mit Signalpfeifen machten wir auf überholende Pkw aufmerksam, wenn wir überholt wurden. Nebenstraßen wurden gekorkt, also die Ausfahrt für Pkw gesperrt, wenn zu wenige Polizeikräfte im Einsatz waren.

Duzende Radfahrende von hinten, viele tragel lila T-Shirts, alle haben Packtaschen, mehrere auch Fahnen an ihren Rädern

Am Ende eines Tages applaudierte uns spontan eine Polizeistaffel, als wir das Tagesziel erreicht hatten und die Beamt*innen und wir uns verabschiedeten.

Die TdV ist keine Radtourismusveranstaltung, sondern eine verkehrspolitische Aktion. Wie auch 2021 und 2022 war es Ziel und Aufgabe, in Städten und Gemeinden die lokalen Politiker*innen, Verkehrsplaner*innen, zivilen Initiativen und Einzelpersonen zu unterstützen. Denn wer sich einsetzt für Verbesserung der Radinfrastruktur, Sicherheit der Radfahrenden, gerechte Verteilung des öffentlichen Verkehrsraums, Verbesserung des ÖPNV und für ein Ende der Bevorzugung des motorisierten Kraftverkehrs, kann jede Unterstützung gebrauchen. Wir erlebten Critical Masses, Stadtführungen und besichtigten besonders gefährliche Stellen mit ungelösten Konfliktpunkten zwischen Kfz- und Fahrradverkehr.

In der Hansestadt Bremen trafen wir die für die Mobilität zuständige Senatorin. Wir wurden von Bürgermeister*innen, Stadtplaner*innen und Verkehrsdezernent*innen in oder vor ihren Rathäusern empfangen. Wir unterstützten Initiativen und Vereine bei deren Forderungen nach Förderung des Radfahrens. Denn das Fahrrad ist Teil der Lösung, um die dringend erforderliche Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Verkehrssektor verwirklichen zu können.

Ergänzt wurden diese Begegnungen durch einen Vortrag und zwei Workshops zum Thema “Verkehrswende von unten selber machen”.

Panoramafoto: Duzende Menschen mit bepackten Fahrrädern vor einem gepflegten zweistöckigen weißen Haus mit der Aufschrift "Rathaus".

In einem Moor zeigte uns die Initiative gegen den Bau der A20, was durch den geplanten, jedoch ungerechtfertigten Autobahnbau an wertvollen Biotopen vernichtet werden soll. Einige Bürgermeister*innen holten uns vor der Stadt mit dem Rad ab oder begleiteten uns ein Stück auf dem weiteren Weg. Wir waren immer auffällig und kreativ und hinterließen zumeist begeisterte Menschen.

Dank eines starken Presseechos konnten wir unsere Hauptforderung nach der Novellierung des völlig überkommenen Kraftverkehrsgesetzes und der StVO öffentlich wirksam platzieren. 

Um den Menschen in den Städten und Gemeinden Gelegenheit zu geben, ihre Forderungen an die Bundespolitik in Berlin schriftlich zu kommunizieren, stellten wir gelbe Mini-Ortsschilder bereit, auf deren Rückseite die lokalen Vertreter*innen (politisch Agierende, Initiativen, Vereine) ihre jeweiligen Wünsche und Forderungen aufschrieben. Wir kamen mit 26 Ortsschildern zurück nach Berlin!

In Wolfsburg, der VW-Autostadt, waren wir besonders kreativ und auffällig. Eine Initiative hatte ein unübersehbares Transparent angefertigt, das wir gemeinsam vor dem VW-Werkeingang, dem IG-Metall-Verwaltungsgebäude und der Wolfsburger Fußgängerzone (ja, die gibt es!) entrollten. Es zeigte eine mit Menschen voll besetzte VW-Straßenbahn. Der Clou: Zu der Initiative gehören auch kritische Menschen aus dem VW-Konzern, die eine stärkere Ausrichtung von VW auf Straßenbahnen und andere zukunftsfähige Fahrzeuge fordern.

Einzigartig übertrieben war die Polizeipräsenz in Wolfsburg: 14 Einsatzfahrzeuge und rund 80 Polizeibeamt*innen meinten, uns schützen zu müssen. Ist die Anti-Fahrradlobby in der VW-Hauptstadt so militant? Oder hatte man Angst, wir würden uns ans Werkstor ketten, die Produktion für mindestens einen Monat stilllegen und damit das Autoland und den Konzern in den Abgrund stoßen?

Zurück zu den 26 gelben Mini-Ortstafeln: Zum Ende der TdV 2023 trafen wir Staatssekretärin des Bundesumweltministerium Dr. Christiane Rohleder (Bündnis 90/Die Grünen). Leider waren ähnlich hohe politische Vertreter des Verkehrsministeriums zu beschäftigt (oder vielleicht schon im Wochenende), so dass die Übergabe der Forderungen dort nicht erwünscht war.

Wir übergaben jedoch jede der Ortstafeln an die Staatssekretärin und trugen jeweils eine der Forderungen aus den Gemeinden stellvertretend für deren übrigen Wünsche und Anregungen vor. Die Staatssekretärin reagierte sehr positiv auf diese Aktion und versprach, die Gesamtheit der Forderungen, Wünsche und Anregungen im Internet zu veröffentlichen.

Die Fahrerin des Rollstuhlhandbikes ergänzte die Liste durch die Forderung nach behindertengerechter Gestaltung des öffentlichen Raumes: Ihr Fahrzeug ging auf dem groben Kopfsteinpflaster der letzten Etappe kaputt.

Mehrere Menschen in Lila Tour de Verkehswende T-Shirts, mehrere halten gelbe Ortsschilder in etwa A4-Format in der Hand, im Hintergrund ein Park, große Bürogebäude und ein Zelt.

Als Abschluss der TdV 2023 gab es eine Ankunfts- und Abschiedsparty. Neben der Freude über das Ankommen fiel es aber auch schwer, sich von den neu gewonnen Freund*innen zu verabschieden.