Redebeitrag für die in Berlin-Zehlendorf getötete Radfahrerin

Mahnwache 30. Juni, 17:30 Uhr Sundgauer Straße Ecke Clayallee 14169 Berlin-Zehlendorf

Am Montag, den 30. Juni haben wir uns in Berlin-Zehlendorf zu einer Mahnwache versammelt. Dort haben wir gemeinsam mit dem ADFC Berlin der an der Clayallee Ecke Sundgauer Straße getöteten Radfahrerin gedacht. Christian Roux hat gesprochen: 


Guten Abend,

mein Name ist Christian Roux.

Ich bin vom Verein Changing Cities. Ich danke Ihnen, liebe Freunde, Familie, Geschwister, Angehörige und Betroffene, im Namen von Changing Cities und des ADFC Berlin, dass Sie so zahlreich gekommen sind, um gemeinsam mit uns zu trauern, aber auch um gemeinsam ein Zeichen zu setzen, dass es so nicht weitergehen darf.

Am 15. Juni befuhr eine 87 jährige Radfahrerin den Hochbordradweg der Clayallee in nördlicher Richtung. Auf Höhe der Sundgauerstrasse wurde sie von einer Autofahrerin, die aus der Sundgauerstrasse nach rechts in die Clayallee abbog, so schwer verletzt, dass sie an den Verletzungen starb. Für zu viele Menschen in der Politik ist es nur eine weitere Zahl, aber für uns und vor allem für ihre Familie war sie ein Mensch. Sie lebte seit 50 Jahren in Berlin, war trotz des hohen Alters sehr aktiv und pflegte weiterhin alleine ihren Garten. Der Weg zum Seniorensport sollte leider ihr letzter werden. Ich spreche Ihnen, den Kindern und Enkelkindern im Namen aller Anwesenden Menschen mein tiefstes Mitgefühl aus und wünsche Ihnen viel Kraft für die kommenden Wochen und Monate.

Sie ist dieses Jahr die 13. getötete Person im Berliner Straßenverkehr. In der Zeit, in der wir diese Mahnwache vorbereiteten, wurden bereits 4 weitere Menschen getötet. Im Osten Berlins starb eine Person nach dem Ausstieg aus der Tram durch ein illegales Autorennen. Im Süden Berlins ein Rentnerehepaar auf dem abendlichen Spaziergang. Nach ersten Erkenntnissen ebenfalls mit überhöhter Geschwindigkeit. Heute Mittag musste ich diese Rede erneut anpassen. Keine 400 m von uns in nördlicher Richtung wurde heute Morgen ein 24-jähriger von einem Autofahrer oder Autofahrerin getötet. Die Person beging Fahrerflucht und ließ die schwerstverletzte Person liegen.

Dieser Ort hier ist für viele kein unbekannter Ort. Auf der einen Seite gibt es die Sundgauerstraße, um die sich eine eigene Bürgerinitiative gebildet hat und die seit langem auf die Gefahren durch die Nutzung dieser Straße als Abkürzung hinweist. Gefordert werden unter anderem Tempo 30 in der Sundgauerstraße sowie eine rote Markierung des querenden Radwegs zur Erhöhung der Sichtbarkeit. Ebenfalls nötig ist eine Herausnahme der Sundgauerstraße aus dem übergeordneten Straßennetz. Auf der anderen Seite gibt es die Clayallee, auf der ein Bussonderstreifen zu Gunsten eines Parkstreifens weggeklagt wurde. Es braucht nun einmal Prioritäten im Leben. 

Die Kreuzung, an der wir uns befinden, ist eines von vielen eklatanten Beispielen verfehlter Verkehrsplanung in dieser Stadt. Wir haben einen Hochbordradweg, der erst im Kreuzungsbereich in den Sichtbereich von Autofahrer*innen ragt. Wir haben einen Kurvenradius, der beim Abbiegen nicht zum Bremsen zwingt, und zum Unfallzeitpunkt hatten wir eine Baustelle, die alles noch ein bisschen unübersichtlicher machte. Von diesen Kreuzungen haben wir nicht eine, nicht zwei, nicht drei, sondern hunderte im ganzen Stadtgebiet. Wie konnten wir zulassen, dass über Jahrzehnte die ganze Stadt in eine Vorhölle für Radfahrende und zu Fuß gehende umgebaut wurde?

Senat

Zuerst möchte ich mich an den Senat wenden.

Haltet euch an Gesetze! Das Mobilitätsgesetz gibt klar vor, wo und wie Radwege gebaut werden müssen. Was macht ihr derweil? Sämtliche Radweg-Planungen wurden verworfen. Das Recht auf Parkplatz wurde über das Recht auf sicheres Radfahren gehoben. Wie verlogen kann man sein? Wie wenig muss man Menschen lieben, die sich ohne Auto durch die Stadt bewegen? Entschärft Kreuzungen proaktiv mit kostentechnisch niederschwelligen Mitteln, wie Poller. Mitte, Schöneberg und Kreuzberg machen es im großen Stil vor. Wir leben in einer Stadt und nicht auf einer Autobahn. Niemand braucht große Abbiegeradien oder Kreuzungen, auf denen man mehrere Wohngebäude oder hunderte Bäume pflanzen könnte.

Liebe CDU. Ihr wollt die Law and Order Partei sein? Dann liefert doch mal. Wann wird die Bußgeldstelle vernünftig ausgestattet? Wann werden mehr Blitzer aufgestellt? Wann werden die Kontrollen permanent erhöht, um gegen Raser vorzugehen oder Menschen am Handy? Oder ist die Durchsetzung der Gesetze im Straßenverkehr für Sie einfach irrelevant?

Liebe SPD. Hört auf damit, der Erfüllungsgehilfe der  CDU zu sein. Wie könnt ihr euch in dieser Koalition noch im Spiegel ansehen? Das Mobilitätsgesetz, das von euch mit geschaffen wurde, wird mit Füßen getreten. Und ihr schaut einfach zu?

Liebe Frau Bonde, wann geben Sie endlich die TVO oder den Schlangenbader Tunnel auf? Das sind Millionen, die wir sinnvoll in die Verkehrssicherheit dieser Stadt investieren könnten.

Wann wird der Preis der Parkvignette signifikant erhöht, damit Besitzer von Autos zumindest zu einem kleinen Teil für die von ihnen verursachten Kosten aufkommen?

Bezirke

Es gibt allerdings nicht nur den Senat. Es gibt auch die 12 Berliner Bezirke mit viel mehr Macht als man uns teils glauben lässt. Liebe Bezirke, vieles könnt ihr selber. Anbei ein paar Tipps, die kostengünstig und sicher vor Sabotage aus dem Senat sind.

Zuerst wären da die berühmten Teileinzüge. Der phänomenale und bahnbrechende Entscheid des Berliner Verfassungsgericht zum Volksbegehren Berlin Autofrei hat euch dafür noch einmal ganz klar den Rücken gestärkt. Nutzt es!

Weiter geht es mit dem Gehwegparken. Ordnet diese Übergriffigkeit gegenüber Fußgänger*innen großflächig ab, denn wo weniger Parkplätze sind, fahren am Ende weniger Autos. Wo weniger Autos fahren, gibt es weniger Unfälle. Traut euch, lasst die Ewiggestrigen klagen und verlieren. Wir brauchen mehr Jurisprudenz.

Dann wäre da noch die berühmte StVO, die in dieser Stadt zu oft lediglich als lose Empfehlung angesehen wird. Bestellt euch Abschleppwagen vor, lastet sie aus, befreit uns von Falschparker*innen an jeder Ecke. Es muss in die Köpfe gehen, dass dies kein Kavaliersdelikt ist.

Man kann den aktuellen Senat gar nicht genug kritisieren, aber ihr solltet nicht davon ablenken, dass ihr selber viel mehr machen könntet.

Ausblick

Es gibt aber auch Lichtblicke wie den Entscheid des Berliner Verwaltungsgericht in der vergangenen Woche. Das Volksbegehren Berlin Autofrei wurde zugelassen und als verfassungskonform bewertet. Das ist bahnbrechend und revolutionär. Wir leiden in dieser Stadt an schlechter Luft und unsicheren Straßen. All das nur, weil eine Minderheit eine große Mehrheit der Fläche quasi kostenlos nutzen darf und uns tagein tagaus gefährdet. Letzte Woche wurde durch das Urteil eine große Tür geöffnet und wir müssen diese nutzen. Wir brauchen diese Bewegung von unten. Während wir an der Spitze von Parteien Menschen haben, die gewillt sind, sich dem Auto unterzuordnen, haben wir eine Basis, die dazu nicht mehr bereit ist.

Zwei Aussagen aus der Politik der vergangenen Woche möchte ich hierzu zitieren.

“Ein weitreichendes Verbot von Autos im Innenstadtbereich könnte jedoch zu einer Polarisierung zwischen Innen- und Außenstadt führen. Das Risiko, dass Menschen, die derzeit noch ein Auto besitzen, sich überrumpelt fühlen, ist nicht zu vernachlässigen.”

Ja es ist nicht zu vernachlässigen, aber wir können nicht ständig auf die Gefühle einer Minderheit an Autofahrer*innen Rücksicht nehmen, während wir dabei zuschauen, wie teils über 50 Menschen in einem einzigen Jahr getötet werden. Diese Aussage ist ein absolutes Armutszeugnis. Die Polarisierung wurde von denen angefangen, die die Stadt autogerecht umgebaut haben.

Ein weiteres, gekürztes Zitat: “In Berlin sollten sich alle so fortbewegen können, wie sie es wollen.” Und später weiter: “Auf den Mix kommt es an – und auf die Sicherheit. Ein autofreies Berlin grenzt aus und passt nicht zu einer Metropole. Das wird es mit mir nicht geben.”

Auf die Sicherheit? Welche Sicherheit? Dieses Zitat ist von Kai Wegner. Er hat es in der Hand. Würde der Senat eine moderne Verkehrspolitik führen, dann wäre es vermutlich gar nicht soweit gekommen, dass Menschen ihre Freizeit opfern um ein Gesetz zu schreiben, das den Verkehr in unserer Stadt so sehr zum Positiven neu denkt. Wir können gerne auf andere Metropolen schauen. In Paris werden zehntausende Parkplätze entwidmet und begrünt, während Politiker*innen in dieser Stadt tatsächlich einzelnen Parkplätzen nachtrauern und es skandalös finden, wenn eine Straße vor einer Schule eingezogen wird, damit Kinder sich dort sicher aufhalten können. In New York hat ein Bürgermeisterkandidat realistische Chancen auf das Amt, der den Busverkehr kostenlos machen will. In Amsterdam wird seit Jahrzehnten vorgelebt, dass eine Stadt mit weniger Autos ein Traum sein kann.

Wovor habt ihr alle Angst? Traut euch. Die nächste Wahl sollte sich um genau dieses Thema drehen. Berlin, lass dir das Autofahren verbieten, du wirst es lieben! Liebe Grüne, liebe Linke, liebe SPD, hört auf den Stimmen der wenigen Autofahrer*innen hinterherzurennen und dabei die große Mehrheit der Berliner*innen zu verlieren.

Ich bin müde. 

Müde darüber, bereits über 20 Reden für Mahnwachen geschrieben zu haben, denn es ist keine Routine. Es trifft mich jedes Mal ins Herz. Jedes Mal wenn ich die Meldung erhalte, dass diese anachronistische Verkehrspolitik das nächste Opfer gefordert hat. #VisionZero, wo bist du?

Lasst uns zum Abschied darauf besinnen, für wen wir gekommen sind. Für eine Frau, die auf dem Fahrrad und am Ort unseres Versammelns getötet wurde. Sie könnte noch unter uns sein, wenn eine Autofahrerin besser geschaut hätte, bevor sie einfach weiterfährt.

Lasst uns zum Abschied 3x klingeln und eine Schweigeminute abhalten. Im Anschluss werden wir ein weißes Fahrrad als Erinnerung und Mahnmal aufstellen, an dem ihr Kerzen und Blumen abstellen könnt.