51.
51 Menschen wurden dieses Jahr im Berliner Straßenverkehr getötet.
51 Schon alleine diese Zahl auszusprechen, schmerzt.
Mein Name ist Christian Roux und ich bin vom Verein Changing Cities. Ich danke Ihnen allen im Namen von Changing Cities und des ADFC Berlin, dass Sie so zahlreich erschienen sind, damit wir gemeinsam eines Menschen gedenken können, den zwar viele von uns nicht kannten, aber dessen Tod uns dennoch sehr betroffen macht. Es sind aber auch sehr viele Menschen gekommen, die Alex persönlich kannten. Liebe Angehörige, liebe Freunde, Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, wir sind heute hier, um mit Ihnen zu trauern und Ihnen in Ihrem Schmerz beizustehen. Ich danke auch Oda Hassepass, Filiz Keküllüoğlu und Stephan Gelbhaar für ihr kommen. Es zeigt uns, dass es noch Politiker*innen gibt, denen der Tod Unschuldiger nicht gleichgültig ist.
An der Stelle, an der wir uns versammelt haben, wurde der 38-jährige Alex vor drei Tagen in den frühen Morgenstunden durch einen Autofahrer getötet, der mit massiv überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war. Das Trümmerfeld ergoss sich über 100 m. Der Fahrer – gerade einmal 20 Jahre alt. Es war kein Unfall. Alex wurde getötet. Das müssen wir in aller Deutlichkeit aussprechen. Den Fatalismus, der im Wort “Unfall” mitschwingt, müssen wir ablegen.
Alex war selbst in der Fahrradbranche aktiv und hat über sie seine Liebe zu Fahrrädern entdeckt. Ohne Besitz eines Führerscheins oder BVG Karte legte er all seine Wege mit dem Fahrrad zurück. Er war ein erfahrener Radfahrer, der bei jedem Wetter fuhr, mal mit besserer, mal schlechterer Laune. Einer, der seine Freunde mahnte, sich doch nicht die Vorfahrt erzwingen zu müssen. Freunde und Familie beschreiben ihn als fleißigen und zuverlässigen Mensch, auf den immer Verlass war. Ein sehr korrekter Mensch und großer Fan der Beatsteaks. Sein plötzlicher und viel zu früher Tod hinterlässt eine tiefe Lücke.
Vergangenen Sonntag erst hatten wir uns versammelt, um Abschied von zwei Menschen zu nehmen, die ebenfalls im Berliner Straßenverkehr getötet wurden.
Während wir diese Mahnwache vorbereiteten, ereilten uns bereits die nächsten zwei Fälle. Wir versammeln uns also, um des 49. Toten im Berliner Straßenverkehr zu gedenken, in dem Wissen, dass der 50. sowie der 51. bereits tot sind.
Das ist unerträglich. Das ist skandalös.
Ich sage es ganz deutlich: Nicht Mit Uns!
Die Zunahme an Verkehrstoten ist dabei kein tragischer Zufall. Sie ist ein klares Ergebnis der Politik des aktuellen Senats, so wie der Versprechen aus dem Wahlkampf. Die CDU ging voran und peitschte die Berliner*innen auf, sich ihr Auto nicht verbieten zu lassen. Seit der gewonnenen Wahl wird politisch alles dafür getan, um dieses Versprechen – bzw. wie ich es verstehe – diese Drohung zu erfüllen. Fertig geplante Radweg-Projekte wurden nicht gebaut, teils sogar aktiv wieder abgeordnet und hohe Summen an Fördergeldern verfallen, auf die unsere klamme Stadt doch so sehr angewiesen ist. Sämtliche Radschnellverbindungen, bis auf eine, wurden auf Eis gelegt. Bezirke, die gerne die Mobilitätswende umsetzen wollen, werden finanziell massiv ausgebremst. Wo vom Senat nicht gespart wird, ist bei anachronistischen Projekten wie die Tangentiale Verbindung Ost – auch als TVO bekannt, die über 800 Millionen Euro kosten soll und ein Naherholungsgebiet in eine Asphaltwüste verwandeln soll, oder der Sanierung des Schlangenbader Tunnels, dessen Sanierung schon vor über 10 Jahren mit 32 Millionen Euro beziffert wurde. Bei üblichen Preissteigerungen reden wir also von über einer Milliarde Euro, die eingespart werden könnte. Selbst ein weiterer Ausbau der A100 wird ohne Sinn und Verstand weiter gegen den Willen der betroffenen Bezirke vorangetrieben. Manja Schreiner war bereits eine erwartbare Enttäuschung als Verkehrssenatorin. Ihre Nachfolgerin Ute Bonde steht ihr dabei leider in nichts nach.
Liebe CDU, liebe SPD, Ihr tragt nicht alleine die Schuld daran, dass die Stadt so aussieht, wie sie aussieht, aber Ihr tragt als regierende Parteien mit Euren anachronistischen Entscheidungen die Schuld, dass sie so lebensfeindlich bleibt, wie sie ist. Wie verachtend klingen in Anbetracht der diesjährig tödlichsten Woche im Berliner Straßenverkehr die Worte eines CDU Abgeordneten, der letzte Woche im Abgeordnetenhaus eine Rede hielt, bei der er von Realitäts-Anpassungen im Verkehrs-Budget redete. Realitätsanpassungen… Welch abstoßender Euphemismus für massive Budgetkürzungen. Wie soll das Budget genau an die Realität angepasst werden? Wie viele Tote sind akzeptabel, liebe CDU? 50? 100? Für mich sind genau 0 Tote im Straßenverkehr akzeptabel. Wer nichts gegen Raser*innen unternimmt und wer sich gegen Tempo 30 in der Stadt ausspricht, hat seinen moralischen Kompass vollständig aus den Augen verloren. Politik trägt Verantwortung und sollte keine Spielwiese für Menschen sein, die unser Leben, so wie das unserer Kinder, aktiv durch ihre Entscheidungen ruinieren.
Ganz konkret wurden die Gelder für Zebrastreifen halbiert, es werden keine neuen Blitzer angeschafft, obwohl sie sich selbst finanzieren. Anwohnerparken bleibt bei günstigen 2,8 Cent pro Tag, anstatt die Gebühren auf ein für Hauptstädte übliches Maß anzuheben und diese Gelder in die Mobilitätswende zu stecken. Das Personal in der Bußgeldstelle wird weiterhin nicht aufgestockt, sodass tausende Anzeigen weiterhin nicht verarbeitet werden. Die Fahrbahn wird immer mehr zu einer rechtsfreien Zone.
Schauen wir uns konkret die Straße an, auf der wir stehen. Die Landsberger Allee. Drei Fahrstreifen in jede Richtung. Manche Autobahnen wären eifersüchtig auf diese Aufteilung und das mitten in der Stadt. Aktuell ist hier eine Baustelle. Wie kann es sein, dass wir in der Lage sind, eScooter, die maximal 20 km/h fahren können, je nach Bereich in ihrer Geschwindigkeit einzuschränken, während man erst seit kurzem in Autos einen verpflichtenden Geschwindigkeitsassistenten hat, der jedoch per simplem Knopfdruck deaktiviert werden kann? Wenn die Baustelle beendet ist, wird man hier auf Grund der Breite der Straße noch schneller fahren können. Was wird der Senat tun, um dies zu verhindern, wenn weder bauliche Veränderungen geplant sind und er auch kein Geld für Blitzer ausgeben will?
Lasst uns wieder darauf besinnen, für wen wir uns hier versammelt haben. Für Alex, einen leidenschaftlichen Radfahrer und treuen Freund. Lasst uns zum Abschied dreimal klingeln und eine Schweigeminute abhalten. Im Anschluss werden wir ein weißes Fahrrad aufstellen als Erinnerung und Mahnmal an Alex.
von Christian Roux