Bevorstehendes Klimaschutz-Sofortprogramm: zusätzliche Maßnahmen mit erheblicher CO2-Wirkung im Verkehrssektor dringend notwendig
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
unlängst hat der Expertenrat für Klimafragen dem Sofortprogramm des Bundesverkehrsministeriums ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Es sei „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ und erfülle „nicht die Anforderung an ein Sofortprogramm“. Im Gegenteil führe es zu einer kumulierten Erfüllungslücke von 261 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente bis zum Jahr 2030. Es ist offenkundig, dass es weitere klimapolitische Maßnahmen mit erheblicher CO2-Minderungswirkung braucht, um eine jährlich neue Zielverfehlung des Verkehrssektors zu verhindern und die Zielerreichung für das Jahr 2030 sicherzustellen.
Leider können wir bislang nicht erkennen, dass der Bundesverkehrsminister entsprechende Instrumente und mögliche Ausgestaltungsvarianten erarbeiten lässt. Dabei hat sich die gesamte Bundesregierung im Koalitionsvertrag und per Gesetz dazu verpflichtet, konkrete und ausreichend wirksame Maßnahmen auszugestalten und zu implementieren. Das Klimaschutz-Sofortprogramm bietet nun die Chance, dies umzusetzen.
Der Koalitionsvertrag bekräftigt, dass alle Sektoren ihre Emissionen senken müssen. Mit rund einem Fünftel der Emissionen Deutschlands ist der Verkehrssektor zentral für die Erreichung der Klimaziele. Er ist der einzige Sektor, der seit 1990 seine Emissionen nicht nennenswert verringern konnte. Für das Erreichen des Sektorziels 2030 ist fast eine Halbierung der Verkehrsemissionen gegenüber 2019 notwendig.
Dafür braucht es erhebliche Veränderungen in allen Bereichen der Mobilität: Die Verlagerung von Verkehr auf den ÖPNV, Fuß- und Radverkehr und beim Güterverkehr von der Straße auf die Schiene muss mit Entschlossenheit und ausreichender Finanzierung vorangetrieben werden.
Ebenso braucht es einen schnelleren Hochlauf der Elektromobilität in allen Bereichen. Dies lässt sich nicht wie bislang allein durch kostenintensive Subventionen für E-Autos herbeifördern. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern werden in Deutschland klimaschädliche Verbrenner mit hohen Emissionswerten noch immer subventioniert und zu gering besteuert. Es braucht eine ökologisch ausgerichtete Steuerpolitik, die eine Lenkungswirkung hin zu klimafreundlichen und nachhaltigeren Autos und weg von Verbrennern entfaltet.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Ihre Partei hat in der letzten Legislaturperiode das Klimaschutzgesetz maßgeblich gestaltet und auf den Weg gebracht. Eine Aufweichung der Sektorziele, mit dem sich der Verkehrsbereich aus der Verantwortung stehlen könnte, ist nicht hinnehmbar. Im Koalitionsvertrag ist klar geregelt, dass jeder Sektor einen Beitrag leisten muss. Wir fordern Sie auf, machen Sie Klimaschutz zur Chefsache und sorgen Sie dafür, dass im September ein umfassendes Klimaschutz-Sofortprogramm vorgelegt wird, das den Klimazielen im Klimaschutzgesetz gerecht wird und die Erreichung der Klimaziele im Verkehr bis 2030 durch eine umfassende und konsequente Mobilitätswende sicherstellt.
Für den Verkehrssektor sind dabei unter anderem folgende Maßnahmen unverzichtbar:
● Abbau und ökologische Umgestaltung der Dienstwagenbesteuerung: Die Dienstwagenbesteuerung muss klimafreundlich umgestaltet und gleichzeitig muss das Dienstwagenprivileg sozial gerecht abgebaut werden. Die 1-Prozent-Regelung für Verbrenner und die 0,5-Prozent-Regelung für Plug-in-Hybride müssen deutlich erhöht und ökologisch ausgerichtet werden. Zusätzlich müssen die Abschreibungsmöglichkeiten für diese Fahrzeuge schrittweise beendet werden. Zwei von drei neuen Autos werden in Deutschland als Firmenwagen zugelassen, die hohe Steuervorteile genießen. Gleichzeitig sind diese Autos für
drei Viertel der CO2-Emissionen von Neuwagen verantwortlich, weil sie oft emissionsintensive Verbrenner sind. Eine ökologische Reform der 1-Prozent-Regelung und der Abschreibungen könnte den Markthochlauf von vollelektrischen Firmenwagen schon kurzfristig ankurbeln, die CO2-Emissionen senken, sie ist kosteneffektiv und sozialverträglich.
● Eine CO2-basierte Neuzulassungssteuer, die als Bonus-Malus-System einmalig bei der Erstzulassung von Verbrennern erhoben wird, ist hochwirksam, um klimaschonende Neuwagen zu befördern: In allen Ländern mit einer solchen Besteuerung liegen die durchschnittlichen CO2-Emissionen bei Neuwagen niedriger als in Deutschland. Um die Emissionen rasch zu reduzieren und den Markthochlauf von E-Autos zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung eine nach CO2-Emissionen gestaffelte Neuzulassungssteuer in Anlehnung an das niederländische Modell einführen. Während in Deutschland im Jahr 2020 gut 16 Prozent der Neuwagen besonders klimaschädlich waren, betrug deren Anteil in den Niederlanden weniger als drei Prozent.
● Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket: Das 9-Euro-Ticket war mit rund 52 Millionen verkauften Fahrscheinen und rund 1,8 Millionen Tonnen eingespartem CO2 auch klimapolitisch ein enormer Erfolg. Es zeigt eindrücklich, dass der ÖPNV dann attraktiv ist, wenn er günstig und einfach zu nutzen ist. Umso entscheidender ist, dass die Nachfolgeregelung des 9-Euro-Tickets zeitnah umgesetzt wird. Ein dauerhaft bundesweit gültiges Nah- und Regionalverkehrsticket ermöglicht erschwingliche Mobilität für alle und erlaubt, mehr Wege klimafreundlicher zurückzulegen. Um Gelegenheitsnutzende zu einem dauerhaften Umstieg zu bewegen und einen merkbaren Klimaeffekt zu bewirken, sollte es deutlich günstiger als bestehende Tarife sein und muss zudem auch Menschen mit niedrigen Einkommen soziale Teilhabe ermöglichen. Dafür sollte sich der Bund mit aller Kraft und den notwendigen finanziellen Mitteln einsetzen. Um ein solches Ticket und den dringend notwendigen Kapazitätsausbau an Zügen und Infrastruktur zu finanzieren, müssen die klimaschädlichen Subventionen im Verkehrssektor endlich gestrichen werden.
Wir fordern Sie auf, Ihr Versprechen einer Klimakanzlerschaft einzulösen. Nehmen Sie den Bundesverkehrsminister und das gesamte Kabinett in die Verantwortung, das Klimaschutzgesetz einzuhalten und dazu effektive und schnell wirksame Maßnahmen vorzulegen. Die notwendige Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen ist mehr denn je geboten. Bitte, sorgen Sie dafür, dass noch im September das seit Monaten verzögerte Klimaschutz-Sofortprogramm vorgelegt wird und setzen Sie sich besonders im Bereich Verkehr für die notwendigen Maßnahmen ein.
Für weiterführende Gespräche stehen wir gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Stef Cornelis, Direktor Deutschland, Transport & Environment
Dr. Christiane Averbeck, Geschäftsführende Vorständin, Klima-Allianz Deutschland
Martin Kaiser, Geschäftsführender Vorstand, Greenpeace
Christoph Heinrich, Vorstand, WWF Deutschland
Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer, Germanwatch
Leif Miller, Bundesgeschäftsführer, Naturschutzbund Deutschland
Brick Medak, Leiter Berlin, E3G
Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende, Verkehrsclub Deutschland
Carolin Schenuit, Geschäftsführende Vorständin, FÖS
Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin, Deutscher Caritasverband
Kai Niebert, Präsident, Deutscher Naturschutzring
Arndt von Massenbach, Geschäftsführer Politik, INKOTA-netzwerk
Dr. med. Christian Schulz, Geschäftsführer KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit
Dr. Katharina Reuter, Geschäftsführerin, Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft
Dr. Klaus Reuter, Geschäftsführer, Landesarbeitsgemeinschaft Agenda 21 NRW
Dieter Bürbach, Stv. Vorsitzender, B.A.U.M.
Prof. Dr. Herrmann E. Ott, Vorsitzender des Vorstands, Client Earth – Anwälte der Erde
Arne Dunker, Vorstand, Deutsche KlimaStiftung
Anna Schwanhäußer, Geschäftsführende Vorständin, Together for Future
Jan Plagge, Präsident, Bioland
Baraa Abu El Khair, Vorsitzender, NourEnergy
Sabine Terhaar, Geschäftsführende Vorständin, fairPla.net
Michael Schröder-Schulze, Schatzmeister, Bürgerlobby Klimaschutz
Boris Hekele, Vorstand, Changing Cities
Anja Ostermann, Vorstandsvorsitzende (komm.), BildungsCent
Anja Westermann, Stv. Vorsitzende, foodsharing
Helena Geißler, Klimaschutzreferentin, Netzwerk Klimaherbst
Mechthild Heil, Bundesvorsitzende, Katholische Frauengemeinschaft Deutschland
Sybille Wiesemann, Umweltbeauftragte, Evangelische Kirche der Pfalz
Kerstin Blum, Geschäftsführerin Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen
Klaus Breyer, Institutsleiter, Evangelische Kirche von Westfalen
Andreas Luttmer-Bensmann, Bundesvorsitzender Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands
Gülcan Nitsch, Geschäftsführerin, Yeşil Çember – ökologisch interkulturell
Sören Fencher, Stv. Vorsitzender, POW Germany
Werner Kiwitt, Geschäftsführer, artefact
Udo Gattenlöhner, Geschäftsführer, Global Nature Fund
Dr. Martin Köppel, Geschäftsführer, Protect the planet
Außerdem zeichneten diesen Brief: Gregor Podschun, Bundesvorstand des Bund der Deutschen Katholischen Jugend; Hans Martin Renno, stv. Ausschussvositzender der Evangelisch-methodistische Kirche – Süddeutsche Jährliche Konferenz (EmK-SJK); Miee Park, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie; Melissa Jäckel, Vorständin der Klimadelegation; Sarah Louis Montgomory von GenderCC – Women for Climate Justice; Maritta Strasser, Bundesgeschäftsführerin von NaturFreunde Deutschlands.