Mit von Daimler zur Verfügung gestellten Lkw wollte der Unfallforscher Siegfried Brockmann öffentlichkeitswirksam die Sicherheit von geschützten Kreuzungen in einem Praxistest überprüfen. Changing Cities kritisiert, dass nicht das niederländische Kreuzungsmodell als solches geprüft wurde, sondern ausschließlich die Sichtbeziehungen zwischen Lkw-Fahrer*innen und Radfahrenden.
Die Begegnung von Radfahrenden und Lkw-Fahrer*innen in Kreuzungen sind in Deutschland nicht gut und sicher geregelt; jährlich sterben deshalb Dutzende Radfahrende. Eine entscheidende Ursache ist die Gleichzeitigkeit der beiden sich kreuzenden Verkehrsströme: Während der Lkw rechts abbiegt, darf das Fahrrad gleichzeitig geradeaus fahren. Statt diesen Konflikt aufzulösen, fokussieren viele Planer*innen darauf, die Sichtbeziehungen – mittels Spiegel oder elektronischen Abbiegeassistenten – zwischen beiden Verkehrsteilnehmenden zu verbessern.
„Die Kreuzung funktioniert nicht, und der Assistent funktioniert auch nicht“, folgert Brockmann nach dem Praxistest.
Nach einem einzigen Test wird also das niederländische Kreuzungsdesign als unzureichend abgestempelt. Argumentiert wird: Der Mercedes-Abbiegeassistent konnte Radfahrende nicht erfassen, denn diese sind wohl für fahrbahnnahe Radwegführung gebaut und erfassen Radfahrende nicht, wenn die beiden Verkehrsströme deutlich getrennt sind.
„Es reicht nicht, ein paar Schutzinseln auf die Straße zu legen. Entscheidend für die Sicherheit ist eine fehlerverzeihende Infrastruktur mit Reaktionsräumen und geringerer Abbiegegeschwindigkeit. Die Straßenquerung des Rad- und Fußverkehrs muss zu diesem Zweck weiter zurückversetzt werden, damit der Kfz-Verkehr einen Warteraum mit einem besseren Blick auf das Rad- und Fußverkehrsgeschehen bekommt. Und vor allem müssen getrennte Ampelschaltungen die Verkehrsflüsse entzerren. Bei konfliktfreien Ampelphasen ist eine Kreuzung immer sicherer, egal wie die Sichtverhältnisse sind“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities.
Der Praxistest ist wenig aussagekräftig, da er die folgenden Punkte nicht berücksichtigt:
- Radfahrende können im niederländischen Modell die Gefahr viel eher erkennen und zur Not bremsen. Sie sehen den abbiegenden Lkw. Im deutschen Modell sehen sie bestenfalls das Blinken und sind beim ersten Lenkereinschlag im schlimmsten Fall unter den Rädern.
- Durch die Schutzinseln im niederländischen Modell wird der Abbiegeradius kleiner, die Abbiegegeschwindigkeit geringer. Das gibt allen Beteiligten mehr Zeit, sich aufeinander einzustellen.
- Durch die Verschwenkung des Radverkehrs im niederländischen Modell wird die Geschwindigkeit des Radverkehrs geringer. Das verkürzt den Bremsweg der Radfahrenden im Konfliktfall.
„Will Herr Brockmann damit etwa sagen, dass die Holländer bisher so ziemlich alles falsch gemacht haben, nur weil der Abbiegeassistent eines Herstellers mit dieser Form der Infrastruktur nicht zurechtkommt?“, fragt Inge Lechner von Changing Cities. „Dass Mercedes kein Interesse hat, seine Abbiegeassistenten neu zu entwickeln, ist verständlich. Sie sind heute weder dazu verpflichtet, funktionierende Assistenzsysteme einzubauen, noch haften sie für eventuelle Fehlleistungen.“ Erst ab 2022 sind Assistenzsysteme für neu zugelassenen Lkw verpflichtend – bei allen anderen Modellen aber nicht. In Anbetracht der Tatsache, dass ein Lkw zwischen 10 und 15 Jahren auf der Straße unterwegs ist, wären die meisten Lkw erst ab Mitte der 2030er Jahre mit einem Abbiegeassistenten ausgestattet. Allein für Berlin bedeutet das mehrere Hundert tote Radfahrende und Fußgänger*innen.
„Es ist im wahrsten Sinne des Wortes kreuzgefährlich, wenn ein solcher Status-quo schöngeredet wird“, kommentiert Yvonne Hagenbach von Changing Cities.
Ansprechpartnerin Changing Cities e. V.:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, 0171-5357734
Weiterführende Links:
Artikel im Tagesspiegel vom 06.08.32020
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