Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV) hat vorgestern eine neue Richtlinie zu Baustellen veröffentlicht – eine Tatsache, die die Öffentlichkeit anscheinend nicht zu interessieren hat. Etwa 3.500 ehrenamtlich Mitarbeitende aus dem Verkehrsministerium, Verwaltungen, Ingenieurbüros etc. entwickeln in diesem privaten Verein die Standards für das Verkehrswesen in Deutschland. Ohne jegliche öffentliche Beteiligung werden diese Vorschläge bald zu deutschlandweiten Regelwerken werden.
Die „Richtlinie für die verkehrsrechtliche Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen“, die gestern veröffentlicht wurde, ist eine Überarbeitung einer Richtlinie aus dem Jahr 1995. Darin wird festgelegt, wie der Verkehr an Baustellen zu regeln ist. Im Vergleich zu 1995 hat sich jedoch wenig verändert. Durch die Überarbeitung der StVO war eine Anpassung erforderlich, die Richtlinie bleibt aber ihrem bisherigen Ideal treu: Der Vorrang des motorisierten Individualverkehrs ist unangefochten. Ein Beispiel: Bei einer Baustelle soll der Radverkehr zuerst zu Lasten des Fußverkehrs geführt werden oder wird gar ohne jeden Schutz in den motorisierten Verkehr geschickt. Ein anderes Beispiel: Oft sind die vorgeschlagenen Mindestmaße der verbliebenen Fuß- oder Radwege so gering, dass Begegnen oder Überholen unmöglich ist.
„Es klingt wie Mimimi: Es geht um temporäre Baustellen, habt Euch jetzt nicht so! Aber diese Richtlinie wird bald in ganz Deutschland gelten. Obwohl das Verkehrsverhalten sich in den letzten 27 Jahren grundlegend verändert hat, hält die FGSV an ihrem Grundsatz fest: Der Verkehr, sprich der Autoverkehr, muss immer fließen. Dass Mobilität inzwischen eine höchst politische Angelegenheit geworden ist, die nicht nur Expert*innen vorbehalten ist, wird bei der FGSV einfach ignoriert. Insofern ist die FGSV die Baustelle aller Baustellen“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities.
Die in der FGSV vertretenen Institutionen und Personen sind im Regelfall mit dem jetzigen Verkehrssystem und seinen Charakteristika gewachsen und verwachsen. Man(n) kennt sich und ist weitgehend unter sich.
Udo Becker und Oliver Schwedes, TU Berlin
Laut einem Paper der TU Berlin von Udo Becker und Oliver Schwedes ist eine wesentliche Ursache für die starre Autoperspektive die Zusammensetzung der Mitarbeitenden-Gremien: Es arbeiten z. B. nur 13 Prozent Frauen in den Arbeitskreisen mit. Dadurch fehlen Perspektiven und Inputs von anderen Nutzer*innen. Hinzu kommt, dass die Expert*innen der Arbeitsgremien vorrangig aus Ministerien, Verwaltungen und Ingenieurbüros rekrutiert werden: „Die in der FGSV vertretenen Institutionen und Personen sind im Regelfall mit dem jetzigen Verkehrssystem und seinen Charakteristika gewachsen und verwachsen“, so schreiben die Autoren und schlussfolgern: „Man(n) kennt sich und ist weitgehend unter sich.“
„In der neuen Richtlinie taucht z. B. die neue Überholabstandregel nicht auf. Innerorts dürfen Radfahrende laut StVO nur mit mindestens 1,5 Metern Abstand überholt werden. Eine Anwendung dieser Regel bei Baustellen hätte mehr Sicherheit für Radfahrende bedeutet. Aber die FGSV tut so, als gäbe es diese Regel nicht und räumt stets dem Autoverkehr Vorrang ein. Die Konsequenz: Mit solchen Regelwerken wird die Verkehrswende bereits auf der Verwaltungsebene verunmöglicht. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Die erste wäre eine Reformierung der FGSV. Die zweite wäre noch besser: eine Neuausrichtung der verkehrsbezogenen Standards. In anderen Ländern ist dies eine gesellschaftliche Aufgabe von Regierungen oder Verwaltungen, nicht die eines privaten Vereins,“ kommentiert Jens Steckel von Changing Cities.
Ansprechpartenerin bei Changing Cities e. V.:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, +49 171 535 77 34
Weiterführende Links:
Richtlinie für die verkehrsrechtliche Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen (ist leider nur käuflich erhältlich)
Discussion Paper vom Dezember 2020 der TU Berlin
Informationen zu FGSV e.V.
Informationen zu Changing Cities e.V.
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