„Viele Menschen müssen bis zu zehn Kilometer zu Fuß durch die zerstörten Städten gehen“

Wieso weshalb warum schickt Changing Cities 100 Fahrräder nach Kharkiv? Gibt es nicht ganz andere Hilfsgüter, die wichtiger sind? Lest im Interview mit unserer ukrainischen Partnerorganisation U-Cycle, warum Fahrradspenden Leben retten.

Die U-Bahn-Stationen in Kharkiv wurden durch den Krieg zu Luftschutzbunkern.
Die U-Bahn-Stationen in Kharkiv wurden durch den Krieg zu Luftschutzbunkern. (c) transphoto.org

Hallo. Vielen Dank, dass Ihr Euch in diesen unfassbar stressigen Tagen die Zeit für ein Interview für unsere Community genommen habt. Könnt Ihr U-Cycle und Eure Arbeit kurz vorstellen?

U-Cycle ist ein Projekt der Kyiv Cyclists’ Association. Wir sind in der Ukraine die größte Non-Profit-Organisation, die sich für das Fahrradfahren als sichere und nachhaltige Fortbewegungsmethode einsetzt. Auf Changing Cities sind wir durch die Diplomarbeit unserer Geschäftsführerin Anastasiia Makarenko aufmerksam geworden. Sie hat Euch in ihrer Arbeit als ein positives Beispiel für den Aufbau von ehrenamtlichen, zivilgesellschaftlichen Netzwerken behandelt.

U-Cycle setzt sich dafür ein, dass mehr Radwege gebaut werden, und möchte Menschen für das Radfahren begeistern. „U-Cycle“ hat drei Bedeutungen: „You cycle“ („Du fährst Fahrrad“), „U(rban) cycling“ („Die Stadt fährt Fahrrad“) und „U(kraine) cycles“ („Die Ukraine fährt Fahrrad“). Vor dem Krieg waren unsere drei großen Projekte:

  • Bike2School, eine Kampagne die sicheres Fahrradfahren in den Schulunterricht integriert hat. Diese Kampagne wurde vom ChildFund Deutschland und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützt.
  • Die Unterstützung und Verbesserung der Nationalen Fahrradstrategie der Regierung. Hier ging es uns vor allem darum, den Aufbau eines Netzwerks von guten Fahrradwegen voranzutreiben. Dieses Projekt liegt leider wegen des Krieges vollständig auf Eis.
  • Die Reform des Verkehrsrechts und die Senkung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit für Autos. Zwar gab es 2021 einige Verbesserungen, aber die Gesetze sind immer noch wenig fahrradfreundlich. Auch diese Arbeit können wir in Zeiten von Notstandsgesetzen nicht fortführen. Unser Programmkoordinator Bohdan Lepiavko ist nun in der Armee.

Neben diesen großen Kampagnen haben wir immer wieder Veranstaltungen für Aktivist*innen organisiert. So zum Beispiel das jährliche Veloforum, die Konferenz „Streets For People“ in Kyiv oder den jährlichen Girls Bike Ride.

Welchen Einfluss hat die russische Invasion auf Eure Arbeit? Was hat sich alles verändert? 

Unsere Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen waren total geschockt. Viele sind in andere ukrainische Städte oder ins Ausland geflohen. Einige derjenigen, die im Land geblieben sind, haben sich der Armee angeschlossen. Die Community hat bald begonnen, die Landesverteidigung zu unterstützen. Unsere Geschäftsführerin hat beispielsweise Geld für kugelsichere Westen organisiert. Ansonsten ging es um das nackte Überleben. An unsere normale Arbeit war kaum zu denken. Im ersten Monat des Krieges haben wir uns nur bei den Zoom-Meetings zwischen Changing Cities und U-Cycle gesehen.

Trotzdem versuchen wir auch während des Krieges, unsere Arbeit fortzusetzen. Wir haben die internationale Kampagne #BikesForUkraine gestartet, damit Menschen in vom Krieg zerstörten Städten weiterhin mobil bleiben können. In diesen Städten gibt es kaum oder gar keine öffentliche Verkehrsmittel mehr. Wir sind Changing Cities und Eurer Community sehr dankbar für die Unterstützung der Kampagne.

Medizin, Essen, Wasser … Es gibt so viele notwendige Güter, die man an die Ukraine spenden könnte. Warum bittet U-Cycle gerade um Fahrradspenden? Was helfen Fahrräder in einem Kriegsgebiet? 

Also, einmal ist das Problem, dass der öffentliche Nahverkehr in den Städten nahe der Front zusammengebrochen ist. Kharkiv wurde seit Kriegsbeginn täglich mit Raketen und Artillerie schwer beschossen. Auch private Pkw helfen nicht viel, da Benzin entweder nicht zu bekommen oder streng rationiert ist. Russland hat Ölraffinerien und Öllager systematisch zerstört. Die U-Bahn fährt ebenfalls nicht, da alle U-Bahn-Stationen als Luftschutzbunker genutzt werden. Tausende von Menschen wohnen jetzt unter der Erde. In Kharkiv sind elektrische Trolley-Busse gefahren (ähnlich den deutschen Trams). Viele davon wurden zerstört, ebenso die nötige Stromversorgung. Aber Kharkiv ist unter ukrainischer Kontrolle und bleibt stark.

Viele Menschen müssen bis zu zehn Kilometer zu Fuß durch die zerstörten Städten gehen, um humanitäre Hilfsgüter zu erhalten. Es gibt zwar Freiwillige, die Medizin, Wasser und Essen an alte und gebrechliche Menschen liefern, aber auch ihnen stehen kaum Transportmittel zur Verfügung. Was ihnen fehlt, sind Fahrräder. Viele Freiwillige nutzen jetzt das Fahrrad als günstiges und zuverlässiges Verkehrsmittel.

Zerstörte Trams im Staltovskoe Tram Depot 
(c) transphoto.org
Zerstörte Trams im Staltovskoe Tram Depot (c) transphoto.org

Wie viele Fahrräder werden in  Kharkiv für die humanitäre Hilfe benötigt? Welche öffentlichen Stellen nutzen Räder für ihre Arbeit? 

Die Kharkiver Stadtverwaltung koordiniert die Verteilung von Fahrrädern zwischen den unterschiedlichen Hilfszentren der Stadt. Es gibt 16 staatliche Organisationen und 30 Freiwilligenorganisationen, die die Bewohner*innen der Stadt humanitär unterstützen. Jeden Tag gibt es mehr als 4.000 Anfragen für Babynahrung, Windeln und Essen für Kinder, Mütter und Rentner*innen.

Die gespendeten Fahrräder gehen an Ehrenamtliche in den Hilfszentren, Mitarbeiter*innen der Kommunen und medizinisches Personal. Die Verwaltung übernimmt das Kharkiv Youth City Council. Mit Eurer Unterstützung wollen wir die Bereitstellung von humanitärer Hilfe einfach und unabhängig von Treibstoff ermöglichen. Eine Firma hier hat schon 30 Fahrräder gekauft, aber wir brauchen viel mehr. Wir gehen davon aus, dass allein in Kharkiv 400 zusätzliche Fahrräder benötigt werden. Jedes Fahrrad hilft! Vor dem Krieg hatte die Stadt eine Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen noch in der Stadt sind, aber bisher haben 27.000 Anwohner*innen humanitäre Hilfe in Anspruch genommen. 

Wem helfen die Fahrradspenden besonders? Betrifft das nicht besonders körperlich gesunde Menschen?

Nein, die Fahrradspenden helfen gerade besonders gefährdeten Menschen, die auf die Hilfe von Freiwilligen und öffentlichen Institutionen angewiesen sind. Also Kinder und Mütter, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen, denen mit dem Fahrrad überlebenswichtige Güter geliefert werden.

Möchtet Ihr den Aktivist*innen und Freiwilligen von Changing Cities noch etwas sagen? 

Vielen Dank für Eure Kampagne in Berlin! Wir schätzen jede einzelne Spende, alle Schrauber*innen, alle Leute, die die Spenden einsammeln. Uns geht es um die Menschen, und Fahrräder verbinden Menschen. So könnt Ihr in Deutschland einen Beitrag dazu leisten, Leben in der Ukraine zu retten. 

Vielen, vielen Dank für das Interview und Eure Arbeit. Ihr seid in unseren Herzen und unseren Gedanken!