Liebe Leser*innen,
die Bewegung für Schulwegsicherheit hat viele Mitstreiter*innen, vor allem Eltern, aber auch Schüler*innen, Lehrer*innen und Schulleitungen. Sie alle setzen sich häufig über Jahre dafür ein, dass Kinder selbständig und sicher zur Schule gelangen. Jetzt kommen sie selbst zu Wort.
Den Anfang macht Jens Otte, Schulleiter der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule in Berlin-Lichtenrade. Wir haben ihn nach seiner Motivation und seinen Forderungen gefragt und dazu, was es bedeutet, dass Unfallgefahren auf den Schulwegen nicht schnell und konsequent beseitigt werden.
Lieber Jens Otte, Sie setzen sich seit Jahren für die Verbesserung der Schulwegsicherheit an der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule ein. Gab es einen besonderen Anlass, der Sie dazu motiviert hat?
Ja, mehrere sogar. Seit Jahren thematisierte die Gesamtelternvertretung (GEV) mir gegenüber in praktisch jeder Sitzung die unhaltbaren morgendlichen Zustände durch Elterntaxis vor der Schule.
Es handelt sich hierbei ausdrücklich nicht um Durchgangsverkehr oder Anwohnende, sondern um Eltern, die die Sicherheit von Mitschüler*innen gefährden.
Vor 10 Jahren habe ich noch bei der Einschulungsfeier für Schulwegsicherheit etc. geworben. Die Polizei unterstützt die Grundschulen sogar noch in den ersten Tagen nach der Einschulung der Erstklässler, aber leider mit immer weniger dauerhaftem Erfolg.
Vor ca. drei Jahren habe ich dann mit Elternvertreter*innen der GEV und der zuständigen Stadträtin im Bezirk angefangen, über unsere Möglichkeiten nachzudenken.
Ein relativ schwerer Fahrradunfall eines Schülers kurz vor dem Sommer 2021 war ein weiteres Schlüsselerlebnis.
Wie ist die Situation bisher an Ihrer Schule gewesen? Kommt der Großteil der Kinder selbstständig und sicher zur Schule?
Ja, ca. 80 bis 90 Prozent der Schüler*innen kommen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Bus zur Schule. Die Kinder tun dies größtenteils selbständig, werden aber durch den immer rücksichtsloseren Verkehr real gefährdet.
Können Sie uns mehr über Ihr Engagement erzählen? Was waren/sind Ihre Forderungen, um den Schulweg sicherer zu machen, und wie sind Sie vorgegangen?
Zuerst einmal wollten die Stadträtin und ich von den Kindern selbst erfahren, wie ihr Schulweg aussieht und welche Gefahrenstellen wir leicht erkennen können. Praktisch alle Kinder der Schule beschrieben und/oder malten ihren Schulweg auf.
Somit hatten wir ein erstes Ergebnis, welches ich für die Stadträtin zusammenfassen konnte.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es in Berlin und Deutschland so ein mühsamer Prozess ist, Kindern zu ermöglichen, selbständig und sicher zur Schule zu gelangen?
Bei meinen Auslandsreisen ist mir schon vor Jahren aufgefallen, dass z. B. kleine Dörfer in Neuengland für ein einziges gehörloses Kind ein Straßenschild aufstellen, damit dieses Kind vom Autoverkehr besonders berücksichtigt werden kann.
In Taiwan konnte ich beobachten, wie von freiwilligen Helfer*innen, meist Eltern, die Straßenkreuzungen vor der Grundschule ihrer Kinder morgens, mittags und abends für ca. 30 Minuten bewacht werden und das existierende Ampel- und Zebrastreifensystem an dieser Stelle zusätzlich durch mehrere Freiwillige für die Kinder sicherer gemacht wird.
Für mich sehr beeindruckend und nachahmenswert.
Eine Erklärung für die Situation in Berlin und Deutschland habe ich leider nicht.
Ihre Schule wurde gemeinsam vom Senat und Bezirk für einen kurzen Verkehrsversuch ausgewählt. Dabei wurde für einen Monat lang die Straße vor dem Haupteingang der Schule für den Kfz-Verkehr gesperrt, sodass die Kinder sicher in der Schule ankommen konnten. Was hat das mit den Kindern und auch Ihnen und dem Kollegium gemacht?
Nein, so einfach war es dann doch nicht. Der Senat hatte mit unserem Pilotprojekt gar nichts zu tun. Es wäre schön, wenn es so eine Auswahl geben würde. Die drei Akteure, Stadträtin, GEV und Schulleitung, haben dieses Pilotprojekt aus eigener Kraft gestartet. Die Eltern an meiner Grundschule haben sich also als Freiwillige genauso vorbildlich verhalten, wie ich dies in Taiwan täglich sehen konnte.
Viele Kinder waren baff erstaunt, was wir alles machen „dürfen“ und freuten sich sehr über den nun sicheren Schulweg direkt vor der Schule. Die Mitarbeiter*innen in der Schule hat dies am wenigsten beschäftigt, da sie zu dieser Zeit bereits in der Schule oder im Hort sind und nicht mehr im Straßenverkehr. Die Anwohnenden hat es ungemein gefreut und die allermeisten Eltern ebenfalls. Es war sehr schön zu sehen, was wir als Schulgemeinschaft gemeinsam erreichen konnten und wie viel Interesse dies auf allen Ebenen hervorgerufen hat.
Wie sehen Sie die Chancen für eine Verstetigung des Verkehrsversuchs aus?
Mit diesem personenintensiven Verkehrsversuch kann es keine Verstetigung geben – allerdings überlegen wir gerade alle, was dauerhaft die beste Lösung wäre. Hier kommen z. B. versenkbare Poller, eine Schranke, Verkehrsschilder oder andere bauliche Maßnahmen infrage. In jedem Fall muss die Verstetigung ohne Personalaufwand stattfinden.
Im Rahmen unserer Kampagne #100Schulzonen haben Eltern auch an Ihrer Schule und mit Ihrer Unterstützung einen Schulzonen-Aktionstag organisiert. Was gefällt Ihnen an der Kampagne?
An der Kampagne gefällt mir vor allem, dass die ganz alltägliche Sicherheit auf dem morgendlichen Schulweg zum Thema wird. Es ist kein Luxus, dies zu verlangen, sondern ein Recht aller Kinder.
Vielen Dank, lieber Jens Otte, für das Interview!