Von Katharina Schlüter
„Geht arbeiten!“, „Ihr habt doch nur keinen Führerschein!“, „Seid ihr bescheuert!“: Wer rund 900 Kilometer in Polizeibegleitung durch Deutschland radelt und dabei das Leben der Autofahrer*innen etwas entschleunigt, darf nicht nur auf Zustimmung hoffen. Von Stuttgart nach Berlin in zwölf Etappen ging die Tour de Verkehrswende 2022 – aber ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Ich persönlich stieg pünktlich zum Ruhetag in Erfurt ein und begleitete die TdV 2022 in fünf Etappen von Erfurt nach Berlin. Diese fünf Tage umfasst mein ganz persönlicher Tourbericht.
Teil 1 – das Fahrrad: Ich will es ganz offen schreiben: Bei der ersten Mittagspause lief mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht, meine Beine schmerzten und ich zweifelte insgesamt doch sehr an der ganzen Aktion. Ich hatte mich für mein in die Jahre gekommenes Frosch-Fahrrad entschieden, ein Fahrrad, auf dem ich aufrecht sitzend Autofahrer*innen und Passant*innen entspannt zuwinken kann. So mein Plan. Nicht geplant hatte ich mit den insbesondere in Thüringen doch signifikanten Steigungen. Auf immerhin knapp 550 Höhenmeter brachten wir es auf meiner ersten Etappe von Erfurt nach Naumburg. Das lag weniger an der Topographie des Geländes – die Gegend war recht flach – sondern vielmehr an der spontan durch die Polizei angepassten Streckenführung, die uns über eine Anhöhe nach der anderen führte – angeblich wegen einer Baustelle auf der Talstraße. Während – meine Perspektive – alle anderen die Anhöhen auf ihren sportiven Rädern mühelos zu meistern schienen, keuchte ich aufrecht sitzend Steigung um Steigung hinauf. Mein Eindruck: Alle hielten mich für ziemlich schlecht ausgestattet, Funktionsklamotten hatte ich auch keine an. Fair enough. Andererseits: Ich konnte meinen persönlichen Tourentiefpunkt so sehr früh durchschreiten – denn ab der ersten Mittagspause ging es (physisch und psychisch) bis Berlin nur noch bergauf.
Teil 2 – die Demos: Die Tour de Verkehrswende ist eigentlich eine Summe von insgesamt zwölf Demonstrationen: jede Tagesetappe eine Demo, jede Demo begleitet durch die örtliche Polizei. Erstmal muss gesagt werden, dass das Konzept der Fahrradtour in Polizeibegleitung wirklich sehr überzeugend ist. Entspannt radelten wir Bundes- und Landesstraßen entlang, perfekter Asphalt, ohne Halt, da wir an praktisch keiner Ampel stoppen mussten. Die Reaktionen auf uns – differenziert, wie es sich für eine Demo gehört. Manchmal wurden wir – wie in der Einleitung zitiert – beschimpft, oft reagierten die Menschen aber auch sehr positiv auf uns, winkten und lächelten zurück. Manchmal gab es auch die Gelegenheit, am Wegesrand in die Diskussion einzusteigen, zum Beispiel mit einem Handwerker, der argumentierte, auf sein Auto angewiesen zu sein. Übrigens: Wer glaubt, Polizei ist Polizei, liegt falsch. Die örtlichen Polizist*innen interpretierten ihre Aufgabe doch sehr unterschiedlich. Zum Beispiel ist es so, dass die Polizei die Pausenstellen bestimmt. Unvergesslich für mich die 30-minütige Pause an einer Ausfallstraße kurz vor Leipzig: eine fette T-Kreuzung, wir in der Hitze gedrängt in einer kleinen Ausbuchtung im Wald, die Autofahrende offensichtlich gerne als Klo nutzen. Scheinbar fand die sächsische Polizei diese Stelle geeigneter für uns als den Badesee, den wir ein paar Minuten zuvor passiert hatten. Oder lag es doch eher daran, dass die sächsischen Polizist*innen lieber Auto als Fahrrad fahren und die ganze Aktion sowieso überflüssig fanden? Keine Unterstellungen natürlich, aber tatsächlich drängte sich im Vergleich der örtlichen Polizeibegleitungen doch die Vermutung auf, dass die persönlichen Mobilitätspräferenzen der zuständigen Beamt*innen einen gewissen Einfluss auf Streckenführung und Pausenplatzwahl hatten. So gab es auch Polizist*innen, die wirklich tolle Pausenstellen aussuchten (mit Wasserstelle, Sitzplätzen und Schatten zum Beispiel) und uns sogar zum Abschied einen „Daumen hoch“ schenkten. Oder die drei Vertreter*innen der Versammlungsbehörde der Stadt Naumburg, welche gleich selbst aufs Fahrrad stiegen, um uns zu begleiten.
Teil 3 – das Korken: Man lernt bekanntlich nie aus, so lernte ich auch auf dieser Tour einiges Neues. Zum Beispiel „korken“: Das hat nichts mit Trinken zu tun, was man wissen sollte, bevor man sich dafür meldet. Korken bedeutet, dass man sich den Autos an einer Seitenstraße oder Kreuzung quasi in den Weg schmeißt, damit die Demo entspannt passieren kann. Es erhöht die Überlebenschancen nicht, wenn man die Autofahrenden dabei begeistert anlächelt oder ihnen ekstatisch zuwinkt. Am meisten Spaß macht das Korken, wenn man – so war es manchmal – nicht nur von Polizeiautos, sondern auch von einer Motorradstaffel begleitet wird. Dann löst man als „Korken“ das Polizeimotorrad quasi ab und stellt sich vergleichsweise entspannt den bereits stehenden Autos in den Weg, Daumen hoch Richtung Polizei, die dann zur nächsten Kreuzung donnert. Das fühlt sich ziemlich lässig an. Aber ernsthaft: Es gab auch einen wirklich gefährlichen Vorfall, als ein Busfahrer auf einen korkenden Kollegen zuhielt und – keine Übertreibung nach Aussage der Augenzeug*innen – ihn überfahren hätte, wenn der Kollege nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen wäre. Wir haben Anzeige erstattet.
Teil 4 – unter Freund*innen: Wie stand es so treffend im Changing Cities-Newsletter? „Als Fremde gemeinsam in Stuttgart gestartet, sind wir als Freund*innen in Berlin angekommen“. Das klingt etwas pathetisch, es fühlt sich aber wirklich so an. Was für tolle Menschen: zwischen 20 und 70 Jahren alt, aus ganz Deutschland, auch ein Argentinier schloss sich spontan an. So viele Pläne, Träume, gescheiterte Beziehungen, politisches Engagement, Jobverluste, Neuorientierungen, Studienanfänge, Berufseinstiege – 40 Menschen, 40 Lebensgeschichten: Tatsächlich ist die Fahrradkolonne die ideale Formation für gute Gespräche. Man landet quasi zufällig neben einer Person, und dann fährt man. Lange. Und redet, wenn man mag. Das war wirklich schön.
Wirklich schön war es auch, wenn wir abends – müde und verschwitzt – an unseren Etappenzielen ankamen. Überall empfingen uns die Vertreter*innen der lokalen Initiativen, in Naumburg, Michendorf und bei der Mittagspause in Wiesental auch engagierte Bürgermeister*innen, in Berlin – das soll natürlich nicht unerwähnt bleiben – Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch. Wir fuhren also nicht nur mit neuen Freund*innen, sondern wurden in der Fremde auch wie Freund*innen empfangen. In Naumburg beschenkte uns die lokale Fahrradinitiative erst mit selbstgepflückten Weintrauben und diversen Getränken, um uns dann auf wahlweise eine private Stadtführung oder ein privates Konzert einzuladen. Das war schon wirklich grandios.
Teil 5 – und sonst so? Kein TdV-2022-Tourbericht ohne Würdigung von drei Dingen: Erstens die fantastische Küche. Jeden Abend zauberten die drei gechillten Herren von Fläming Kitchen ein wahnsinnig leckeres, reichhaltiges und dazu noch veganes Essen auf unsere Teller. Zweitens schaffte es das Orga-Team von Changing Cities, aus 40 extrem unterschiedlichen Menschen eine richtig gute Gruppe zu formen. Das passiert nicht einfach so, sondern weil jedes einzelne Mitglied des Orga-Teams mit jeder und jedem super respektvoll umging – und so die Grundstimmung für die gesamte Gruppe prägte. Und drittens natürlich: der Bär! Tatsächlich tauchte an diversen Orten – die Presse berichtete – ein mittelgroßer Braunbär auf und plädierte für eine feministische Verkehrswende. Wirklich wahr! Wer da noch hupt, kann einpacken. Was man sonst noch schrei(b)en kann: Luft und Liebe – KEINE STICKOXIDE! Here we go…
Meine persönliche TdV-2022-Playlist (Credits an alle, die ihre Songs beigesteuert haben):
The Chemical Brothers – Hey Boy Hey Girl
Max Raabe – Fahrrad fahr’n
Kraftklub – Mein Rad
Moop Mama – Die Erfindung des Rades
Jan Böhmermann – Warum hört der Fahrradweg einfach hier auf
Yves Montand – À biciclette
BC Unidos – Bicycle
Die Letzte Reihe – Fahrrad
Maurice Summen – Hey Autos!
Tom Waits – Kommienezuspadt
Von Wegen Lisbeth – Wenn du tanzt