Es geht um Leben, um Menschenleben

Ein Kind und seine Mutter, zu Fuß unterwegs in Berlin, wurden von einem 83-jährigen Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte angefahren und getötet. Die Senatsverwaltung plant, wie an weiteren 33 Hauptstraßen, hier Tempo 50 statt Tempo 30 anzuordnen.

Die Leipziger Straße ist ein Sinnbild der autozentrierten Stadt – sie hat einfach alles, was in dieser Stadt so schief läuft: Mit einem klaren Fokus auf Autos ist es nicht verwunderlich, wenn ungeschützte Verkehrsteilnehmer*innen immer wieder verletzt oder getötet werden.

Die To-do-Liste:

  1. Tempo 50. In der Leipziger Straße gilt wegen einer Baustelle Tempo 30 am Unfallort. Die vier Spuren sind auf zwei eingeschränkt. Hier soll aber wieder Tempo 50 gelten, so will es die Verkehrssenatorin Schreiner (CDU). Höheres Tempo ist tödlicher als moderate Geschwindigkeiten. In Städten, wo keine tödlichen Verkehrsunfälle passieren und Vision Zero Realität ist, gilt flächendeckend Tempo 30.
  2. Querungs(un)möglichkeiten. Für Menschen zu Fuß stellt die vierspurige Straße ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Fußgängerüberwege gibt es zwar, aber im Abstand von mehreren hundert Metern. Mit einem Absperrgitter auf der Mall-Seite soll verhindert werden, dass Menschen die Straße überqueren. Es ist also geplant und gewollt, dass eine Straße mitten im Zentrum einer Großstadt so gefährlich ist, dass man das zu Fuß Queren weitgehend unterbinden muss – um eine Einschränkung des Autoverkehrs zu vermeiden. 
  3. Ungeschützter Radweg. In der Leipziger Straße muss laut Mobilitätsgesetz ein geschützter Radweg eingerichtet werden. Darauf hat die Senatsverwaltung, die für das Hauptstraßennetz in Berlin zuständig ist, jedoch im Sinne der autogerechten Stadt verzichtet und stattdessen einen mit gestrichelter Linie markierten Radstreifen hingemalt. Wären hier Poller oder Betonbaken gewesen, wäre es nicht nur für Radfahrende sicherer, sondern auch für die getöteten Fußgänger*innen: Der Raser hätte dann den Stau nicht lebensgefährdend umfahren können. Abgesehen davon: Ein Pkw hat auch auf einem Radstreifen nichts zu suchen…!
  4. Strafen für Raserei. Der Fahrer wollte angeblich den Stau umfahren und nutzte dafür mit überhöhter Geschwindigkeit widerrechtlich den Radstreifen. Die Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen sind sehr milde: Erst ab einer Überschreitung von über 20 km/h innerorts kommen neben Bußgeld Sanktionen wie Punkte ins Spiel. Ein Fahrverbot gibt es in der Regel nur, wenn es zweimal innerhalb eines Jahres zu einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 26 km/h oder mehr kommt – und zwar für einen einzigen Monat!
  5. Kavaliersdelikt. Das geltende Rechtsverständnis definiert das Sterben eines Verkehrsteilnehmenden nicht als einen Tötungsakt, da dies nicht absichtlich passierte. Auch wenn ein Pkw ab etwa Tempo 30 Menschen töten kann, wird die Verantwortung für den Tod nicht dem Fahrenden zugewiesen. Anders in den Niederlanden: Hier adressiert man die Verantwortung des Autofahrenden qua seiner potentiellen Gewaltwirkung: In einem Unfall zwischen Kfz und Menschen zu Fuß oder mit dem Rad sind die Anforderungen an die Verantwortung des Autofahrenden per Gesetz immer höher als die des ungeschützten Verkehrsteilnehmenden. Das Prinzip lautet: Weil ein Auto potentiell mehr Schaden anrichten kann, ist von Autofahrenden besondere Vorsicht und Rücksicht zu erwarten.
  6. Führerscheinprüfungen. Vor wenigen Wochen wurde mit der Unterstützung des Verkehrsministers Wissing (FDP) eine EU-weite Führerschein-Novelle abgelehnt. Der Vorschlag beinhaltete z.B. Gesundheitschecks für Ältere, ein Tempolimit sowie Nachtfahrverbot für Fahranfänger*innen, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Wissing mutet den Autofahrenden also nicht zu, die Fahrtüchtigkeit im Alter z.B. alle drei Jahre überprüfen zu lassen – nimmt aber stattdessen in Kauf, dass Fußgänger*innen und Radfahrende täglich verletzt oder getötet werden. 

„Unser Gedanken sind bei den Hinterbliebenen. Niemand soll nach Berlin kommen und seine Liebsten auf der Straße verlieren. Das ist entsetzlich und erinnert an die Invalidenstraße, in der vier Menschen 2019 von einem SUV getötet wurden, oder in der Osloer Straße Ecke Prinzenallee Ende 2018, als eine Frau starb und vier weitere Personen schwer verletzt wurden – auch dort waren es Gäste unserer Stadt, die nicht lebend nach Hause zurückkehren konnten. Es ist menschenverachtend, die Gefahren dieses Verkehrssystems zu erkennen und gleichzeitig untätig zu bleiben”, sagt Inge Lechner von Changing Cities.

Pressekontakt:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, +49 171 535 77 34

Weiterführende Links:
Bericht des Tagesspiegels vom 2. Februar 2024
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Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.