Die Rede von der Mahnwache am 6. November

Zwei Räder auf dem Asphalt: vorne ein total demoliertes, dahinter ein weißes Geisterrad. Im HIntergrund Demonstrierende.

von Paul Jäde, Vorstand bei Changing Cities

Liebe Angehörige und Anteilnehmende,

Ich danke Euch, dass ihr heute hier zu der von Changing Cities und dem ADFC veranstalteten Mahnwache gekommen seid, an einen Ort, an dem sich vergangenen Montag Fürchterliches abgespielt hat, infolgedessen eine Radfahrerin verstorben ist.

In der vergangenen Woche hat es so viel mediale und politische Aufmerksamkeit gegeben, wie dies selten bei Verkehrsgewalt der Fall ist. Dabei kam die wahre Hiobsbotschaft des vergangenen Montags und der darauffolgenden Tage meiner Ansicht nach viel zu kurz:

Es ist ein Mensch gestorben!

Wir als Gesellschaft aber natürlich zuvorderst Angehörige und Freunde haben eine Frau verloren! Ohne, dass sie sich verabschieden konnte, ohne, dass sie oder ihre Vertrauten sich darauf vorbereiten konnten, ohne, dass es in irgendeiner Form zwingend und die Unfallursache nicht verhinderbar war.

Wir lesen und sprechen dabei immer unpersönlich über „eine Radfahrerin“, eine „Verkehrsteilnehmerin“, eine „44 jährige Frau“. Und sicherlich gehören Details zum persönlichen Leben der Verstorbenen auch nicht an die Öffentlichkeit, soweit dies nicht ausdrücklich von ihren Angehörigen und Nahestehenden gewünscht ist. Aber gerade deswegen will ich daran erinnern, dass hier eine Person von einem anderen Menschen am Steuer eines Betonmischers überrollt und daran gestorben ist, die genauso gut Du, oder Du, oder ich hätte sein können. Ein Mensch mit Beziehungen, ein Mensch, der fühlt, ein Mensch der Träume hat und nun einfach nicht mehr da ist. So dass Angehörige und Vertraute nun einzig auf Erinnerungen an Vergangenes zurückgreifen, und sich nicht mehr auf zukünftige, gemeinsame Zeit freuen können.

Fürchterlich! Darum sind wir heute hier. Um daran zu erinnern und zu mahnen!

Auch weil dies bereits das achte Mal diese Jahr ist, dass ein radfahrender Mensch wie ihr und ich durch den Berliner Straßenverkehr gestorben ist!  Ich bin in Gedanken bei den Angehörigen und Vertrauten der Verstorbenen und drücke mein tiefes Mitgefühl aus! Lasst uns nun einen Moment der Ruhe finden, der Stille und des Gedenkens, in dem jede und jeder in sich gehen mag um auf seine oder ihre Art vielleicht zu begreifen, was die Verkehrsgewalt des vergangenen Montags an diesem Ort eigentlich bedeutet. Im Anschluss möchte ich das Geschehen noch in die verkehrliche Situation hier vor Ort einordnen.

[Schweigeminute]

Die Verstorbene war am Montagmorgen mit ihrem Fahrrad auf dieser Straße unterwegs. Wir stehen hier jetzt sicher und geschützt durch die Polizei und müssen nicht befürchten, im nächsten Moment von einer Person am Steuer eines Betonmischers zerdrückt zu werden. Aber im Alltag des Berliner Straßenverkehrs und insbesondere an dieser Kreuzung ist dieser Schutz nicht gegeben. Der Berliner Straßenverkehr ist einer, der fast nirgends gewährleistet, dass Radfahrende und zu Fuß gehende unbeschadet und unbesorgt ein Teil von ihm sein können. Der Berliner Straßenverkehr ist aber kein abstraktes Ungeheuer, welches unzähmbar und auf ewig grausam ist. Nein, er ist zum einen Teil menschengemachte Infrastruktur und zum anderen Teil das Verhalten von Menschen, während sie diese Infrastruktur benutzen.

Bei den 100.000 von Menschen, die sich täglich im Berliner Straßenverkehr verhalten müssen, ist es unabdingbar, dass die Infrastruktur Entscheidungen vorgibt, übersichtlich ist, und allen Verkehrsteilnehmenden genügend Platz einräumt, um sich sicher aneinander vorbei bewegen zu können. Sonst kommt es dazu, dass sich zwei Personen am gleichen Ort im gleichen Moment dafür entscheiden können, in unterschiedliche Richtungen abzubiegen und es zum Zusammenstoß kommt, der wie wir wissen, tödlich enden kann. Es bedarf also Klarheit und Übersichtlichkeit, um das Grundbedürfnis der Verkehrsteilnehmer*innen und ein Grundversprechen des Staates zu erfüllen, nämlich die Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit.

Anders ausgedrückt: Die Menschen, welche die Verantwortung für die Gestaltung des Berliner Straßenverkehrs haben, müssen Maßnahmen ergreifen, damit Klarheit hergestellt und Sicherheit für alle gewährleistet ist. Wer sich die Situation für Radfahrende jedoch an diesem Ort ansieht, sieht Chaos und Unsicherheit und Flächenungerechtigkeit: Ein Wirrwarr zwischen Hochbordradwegen und ungeschützten Radwegen auf der Straße, Dreirichtungsradwege, doppelte Abbiegespuren für Kraftfahrzeuge, ganz überwiegend ohne getrennte Ampelphasen für Radfahrende und Autos. Und Radwege von 1,25 m Breite, während nebenan eine vierspurige Straße für Autos mit je 3 m pro Spur brummt.

Mit dieser Unsicherheit für den Radverkehr geht aber zwangsläufig Unsicherheit und Unübersichtlichkeit für den motorisierten Verkehr einher! Konflikte sind vorprogrammiert. Und wie schon ein Fall 2018 und nun die Verkehrsgewalt am vergangenen Montag gezeigt hat, können diese Konflikte mit dem schlimmsten Enden, dem Verlust eines Menschen, welcher im Zweifelsfall nicht in einem Auto saß.

Die verstorbene Frau aber hatte ein Recht darauf, dass ihr Grundbedürfnis danach, lebend und unbeschadet an ihr Ziel zu kommen, erfüllt wird. Wir alle haben ein Recht darauf, dass unser Grundbedürfnis danach, lebend und unbeschadet an unser Ziel zu kommen, erfüllt wird. Und ich will ich daran erinnern, dass das Leben der Verstorbenen nicht einen Hauch weniger Wert war als das von anderen Menschen, nur weil sie sich am vergangenen Montag entschieden hat, auf ein Fahrrad zu steigen um zum Ziel zu kommen und nicht in einen Käfig aus Metall. Von dem Zustand dieser Kreuzung ausgehend muss ich jedoch annehmen, dass es mit der Gleichwertigkeit von Leben und dementsprechend gleichwertigem Schutz aller Verkehrsteilnehmender im Berliner Straßenverkehr nicht so weit her ist.

Das Recht auf Sicherheit im Straßenverkehr für Radfahrende wird hier mit Füßen getreten. Seit 10 Jahren wird an dieser Kreuzung geplant, um sie sicherer zu machen. So lange, dass sich mit dem Mobilitätsgesetz mittlerweile auf klare Vorgaben für den Radverkehr geeinigt wurde, welche Verkehrssicherheit für Radfahrende gewährleisten. Und 2019 wurde diese Kreuzung auf Grund ihrer Gefährlichkeit sogar als ein Knotenpunkt ausgewählt, welcher für mehr Sicherheit noch in jenem Jahr umgebaut werden sollte. Fertig ist es immer noch nicht! Und das, was umgesetzt wurde, entspricht nicht annähernd den Vorgaben des Mobilitätsgesetzes. Auch wurden ganz konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft zur sicheren Umgestaltung der Kreuzung ignoriert, ohne jegliche Begründung, die eine Nichtbeachtung des Rechts auf Sicherheit für Radfahrende rechtfertigen würde, sondern für Außenstehende nur mit dem Dogma bei Verantwortungsträger*innen erklärbar ist, dass unter Verkehrssicherheit und Verkehrsfluss eigentlich nur Verkehrssicherheit und Verkehrsfluss für Autos verstanden wird. Sich von alten Dogmen zu verabschieden tut manchmal weh.  Aber um den Schmerz, den die Verstorbene und ihre Angehörigen und Vertrauten erleiden mussten und müssen, zu verhindern, lohnt es sich, diese Dogmen zur Seite zu legen.

Bei all den Anschuldigungen und hitzigen Kommentaren der vergangenen Tage, will ich daher nun mahnen: Lasst uns nicht vergessen, dass durch Unklarheit und Unübersichtlichkeit an diesem Ort hier eine Frau ihre Leben verloren hat! Und lasst uns als Gesellschaft die Empörung der vergangenen Tage nutzen für das, worauf es nun wirklich ankommt: Verkehrsgewalt, und nicht nur tödliche, zu verhindern. Die Ursachen zu bekämpfen, indem wir das Leben und seine Sicherung aller Verkehrsteilnehmenden gleichwertig behandeln und dementsprechend schützen. Dazu gibt dieser Unfall erneut Anlass und darüber müssen wir jetzt reden!

Der ADFC wird nun ein weißes Fahrrad anbringen, welches alle Verantwortlichen und jede Person, die sich im Verkehr bewegt, mahnen soll, dass wir verhindern müssen, den Grund für eine weitere Mahnwache zu liefern.