Sehr geehrter Herr Innensenator Geisel,
die Berliner Polizei hat vom 1.–12. April erneut eine Präventionskampagne für mehr Sicherheit für Radfahrende und Fußgänger*innen durchgeführt. Changing Cities begrüßt die Maßnahme, denn der Schwerpunkt der Kampagne, Kreuzungen mit abbiegendem Lkw-Verkehr, stellt eine große Gefahr für ungeschützte Verkehrsteilnehmer*innen dar.
Ein Augenmerk wurde dabei auf den „toten Winkel“ gelegt: Lkw-Fahrer*innen könnten den Radfahrenden in der Abbiege-Situation gar nicht sehen. Um Unfälle zu vermeiden, müssten besonders Radfahrende für diese Situation sensibilisiert werden. Unter anderem an der Stelle, wo im Januar eine Radfahrerin von einem rechtsabbiegenden Lkw-Fahrer getötet wurde, wurde mittels Sprühschablonen auf den „ganz toten Winkel“ aufmerksam gemacht. Es hat uns ehrlich gesagt geschockt, wenn an einer Stelle, an der gerade eine Person getötet wurde, dieser Person einer Mitverantwortung zugeschoben wird!
Das Problem ist ja: Der tote Winkel existiert nicht mehr.
Bereits im ursprünglichen Radgesetz hatten wir eine Sensibilisierungskampagne für Berufskraftfahrer*innen vorgeschlagen, denn Lastwagen müssen heute ja durch gesetzliche Vorgaben (Richtlinie 2003/97/EG) mit einer ganzen Batterie zusätzlicher Spiegel ausgestattet sein, so dass der Fahrer grundsätzlich alle relevanten Stellen rechts neben dem Fahrzeug einsehen kann. Wichtig sind dabei, dass: a) alle Spiegel richtig vorher eingestellt sind und b) sie in der Abbiegesituation benutzt werden und die Abbiegegeschwindigkeit so angepasst wird, dass der Überblick gewahrt bleibt.
Die Adressaten des Phänomen toten Winkels sind also nicht Kinder und sonstige Radfahrende, sondern die Lkw-Fahrer*innen. Wann werden sie dafür sensibilisiert, dass sie immer auf die richtige Einstellung ihrer Spiegel achten müssen? Dass sie sich Zeit nehmen müssen, um den gesamten Bereich neben dem Lkw zu erfassen, bevor sie abbiegen? Wenn die polizeiliche Präventionsarbeit immer den „toten Winkel“ als Ursache für Unfälle im Felde führt, signalisiert sie damit den Lkw-Fahrer*innen, dass die Radfahrenden schon zu ihrer eigenen Sicherheit gucken, ausweichen oder notbremsen werden. Das schnelle und sorglose Um-die-Ecke-Brausen stellt somit für sie kein Problem dar.
Es ist natürlich nie falsch, Verkehrsteilnehmende auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Statt vom toten Winkel zu reden, der ein Fehlverhalten der potentiellen Opfer suggeriert, schlagen wir vor, zukünftig über „Risikozonen“ zu sprechen. Z.B. so:
Per Gesetz müssen Lkw über Spiegel und Fenster alle wichtigen Bereiche durch den*die Fahrer*in eingesehen werden können (GRÜN). Praktisch ist das wegen der Hektik des Verkehrs aber oft schwierig. Es bleibt für Radfahrende vor allem vorne am Lkw höchst gefährlich (ROT).
Wenn ein Lkw neben Radfahrenden abbiegt, ohne auf sie zu achten, dann müssen sie den Gefahrenbereich (ROT) verlassen. Dort nicht stehen bleiben! Der Anhänger schneidet die Kurve; so besteht das Risiko, unter die Hinterräder zu kommen.
Wir bitten Sie deshalb, das Verkehrserziehungskonzept „toter Winkel“ der Polizei nochmals zu überprüfen und für die Zukunft auch den Dialog mit den Lkw-Fahrer*innen und den Speditionen zu suchen. Wir sehen hier ein großes Potenzial, unsere Stadt sicherer zu machen.
Um allerdings eine vollständig nachhaltige Lösung zu erreichen, muss das Abbiegen als ein Strukturproblem erkannt werden: Eine wirklich sichere Maßnahme gegen Unfälle in Abbiegesituationen stellt nach wie vor die getrennte Ampelschaltung dar. Wenn Lkw-Fahrer*innen und Radfahrende nicht gleichzeitig fahren dürfen, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Kollision immens. Wir bitten Sie deshalb, diese kleine infrastrukturelle Maßnahme wohlwollend und eingehend zu prüfen.
Mit freundlichen Grüßen,
i.A.
Ragnhild Sørensen
Changing Cities e.V.