In einem Land, in dem die Verkehrswege sich oft nur am Auto orientieren, leiden viele Menschen an Mobilitätsarmut – ein Phänomen, das erst allmählich erforscht und als Problem erkannt wird. Wenn ÖPNV-Angebote und gute Fuß- und Radwege fehlen, bleibt Bürger*innen nur das Auto – ob sie wollen oder nicht. Dennoch werden Menschen, die sich ohne Auto fortbewegen möchten oder müssen, konsequent übergangen.
In Deutschland haben knapp acht Millionen Menschen eine anerkannte Schwerbehinderung, hinzu kommen fünf Millionen Pflegebedürftige und zehn Millionen Kinder unter zwölf Jahren. Knapp 13 Millionen haben keinen Führerschein. Es gibt also eine sehr große Gruppe von Menschen, die nicht Auto fahren können. Durch den Fokus auf das Auto wird für sie die gesellschaftliche Teilhabe erschwert. Besonders deutlich wird dies im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung vom 3. Juli. Darin wird „die Frage, wie gut Schulen erreichbar sind, […] in Auto-Fahrminuten in Entfernung vom Wohnort gemessen. In Großstädten sind das im Schnitt 3,1 Minuten Fahrtzeit, in dünn besiedelten Regionen aber auch nur 7,2 Minuten.“ Dabei können Schüler*innen in der Regel gar kein Auto fahren!
„Das vorherrschende Auto-Narrativ blendet große Gruppen von Menschen aus, die von der autozentrierten Planung nicht profitieren bzw. benachteiligt werden. Kinder, die mit dem Fahrrad oder ÖPNV selbstständig zur Schule fahren können, werden reifer und selbstbewusster. Arme Menschen, die in Gegenden mit unattraktivem ÖPNV wohnen, werden zur teuersten Form der Alltagsmobilität gezwungen und müssen so notgedrungen andere Bedürfnisse zurückstellen. Wir brauchen dringend eine Verkehrsplanung, die alle in den Blick nimmt – denn die auferlegte Autoabhängigkeit verstärkt in vielen Gruppen der Gesellschaft das Gefühl des Abgehängtseins“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities.
Es gibt viele Menschen, die nicht ohne Auto auskommen, weil sie an Orten leben, wo der ÖPNV keine Alternative zum Auto bietet. Dies gilt vor allem im ländlichen Raum. Aber auch am Stadtrand oder sogar in manchen Städten ist Mobilität ohne eigenes Auto nahezu unmöglich. Dabei sind auch in peripheren Regionen 50 Prozent der Alltagswege kürzer als fünf Kilometer und damit in Radfahrdistanz. Trotzdem legen die meisten Menschen diese kurzen Wege mit dem Auto zurück. Warum sind die Radwegenetze nicht vernünftig ausgebaut?
53 Prozent der Haushalte mit sehr niedrigem Einkommen und 37 Prozent mit niedrigem Einkommen besitzen kein Auto. Wie gesagt: Das Auto ist die teuerste Form der Alltagsmobilität. Wenn diese Menschen aber ins Auto gezwungen werden, weil kein alltagstauglicher ÖPNV existiert, wird das Auto zum Treiber sozialer Ungerechtigkeit.
Für arme Menschen wiederum kann selbst ein gut ausgebautes ÖPNV-Netz problematisch sein: Wer nur in Teilzeit oder zum Mindestlohn arbeitet und entsprechend weniger verdient, zahlt für den Arbeitsweg genauso viel wie Menschen mit hohem Einkommen. Auch fehlende Barrierefreiheit erzeugt Mobilitätsarmut.
Alle diese Menschen leiden aus verschiedenen Gründen unter Mobilitätsarmut. Es fließt nach wie vor weit mehr Geld in den Straßenaus- und -neubau als in den Ausbau des ÖPNV und der Rad- und Fußverkehrsnetze. Die Grundlage bildet der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) von 2016, der weder Gesundheits- noch Klimaschutz kennt, sondern vor allem die „Leichtigkeit und Sicherheit“ des Kfz-Verkehrs in den Vordergrund rückt. Dieser BVWP ist noch bis 2030 gültig. Die dort zugrunde gelegte Kosten-Nutzen-Analyse beruht auf der sturen Annahme, dass der Autoverkehr weiter steigen wird – und kommt deswegen seit Jahrzehnten zum Ergebnis, dass mehr Straßen gebaut werden müssen. Menschen, die nicht Auto fahren, werden dabei konsequent ausgeblendet.
„Die Ursachen von Mobilitätsarmut sind zwar vielschichtig, aber die Lösungen sind seit Jahrzehnten bekannt. Die ganze Gesellschaft profitiert sogar davon: Ein Autokilometer kostet die Gesellschaft 15 Cent, z. B. durch Unfälle, Luftverschmutzung und Lärm. Pro Fahrradkilometer verdient die Gesellschaft hingegen 16 Cent, u. a. durch die gesundheitlichen Vorteile. Am wichtigsten ist aber die Erkenntnis, dass Verkehrspolitik immer auch Sozialpolitik ist. Seit Jahrzehnten liegt der Fokus der Verkehrspolitik auf den Gutverdienenden. Das muss sich dringend ändern!“, sagt Sørensen.
Pressekontakt:
Ragnhild Sørensen, ragnhild.soerensen@changing-cities.org, +49 171 535 77 34
Weiterführende Links:
Bericht aus dem Tagesspiegel vom 3. Juli „Wohnen, Verkehr, Bildung”:
Über Changing Cities e.V.: Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.