Wir sind nicht „die Radfahrer“!

Tausende Radfahrende demonstrieren.

Wusstest Du, dass mehr Fußgänger*innen verletzt werden, wenn sie sich regelkonform verhalten und bei Grün gehen als wenn sie bei Rot gehen? Wusstest Du, dass die Zahl der verletzten Autofahrenden zurückgeht, weil die Autos technisch heute viel sicherer sind als früher, während die Zahl der verletzten ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen zunimmt? Ist Dir bekannt, dass Handys am Steuer fast nie als Unfallursache vorkommen, weil das Unfallverzeichnis 1975 erstellt und seitdem nicht aktualisiert wurde? Wusstest Du, dass das Tötungsrisiko bei Tempo 50 bei 80 Prozent liegt, während es bei Tempo 30 gerade mal 10 Prozent sind – egal wer einen Fehler macht? Wahrscheinlich nicht. Und trotzdem wird immer von der Unmöglichkeit, die Vision Zero zu erreichen und über „die Radfahrende“ geredet, die die Regeln nicht einhalten.

So auch bei der rbb-Talkshow „Wir wollen reden” in der vergangenen Woche. Vorab: Die Radfahrende gibt es nicht! Es gibt gute und schlechte, rücksichtsvolle und rücksichtslose, erfahrene und ungeübte. Und ja, jede*r, die*der sich nicht regelkonform verhält, macht das Leben für alle anderen schwer und potenziell gefährlich. Trotzdem ist es wichtig zu wissen, dass Verkehrssicherheit nicht nur vom individuellen Verhalten abhängt. Denn Verkehrssicherheit ist planbar. Neun Fakten dazu: 

  1. Mehr als 2.500 Verkehrstote pro Jahr sind kein Unfall
    In Deutschland sterben jährlich mehr als 2.500 Menschen im Straßenverkehr, Hunderttausende werden z. T. schwer verletzt. Trotzdem erscheint ein Crash oft nahezu schicksalhaft: Ein Unfall ereignete sich, das Auto erfasste den Fußgänger, die Radfahrerin wurde angefahren. Unfälle werden nur ganz selten in einen Kontext gesetzt: Der Radfahrer starb am Unfallort – wie statistisch gesehen weitere sieben Verkehrsteilnehmende an diesem Tag. Wir nehmen Verkehrsunfälle einzeln wahr – und da liegt es natürlich nahe, dass jemand sich falsch verhalten hat.
  2. Der Fokus auf die Opfer blendet die Verursacher aus
    Ein Kind trat plötzlich auf die Fahrbahn, ein Radfahrer geriet unter den Lkw oder eine Fußgängerin wurde angefahren und zog sich Verletzungen zu. In allen drei Fällen werden Unfallopfer beschrieben, als hätten sie aktiv zum Unfallhergang beigetragen. Der andere Part im Crash ist abwesend oder nicht personifiziert.
  3. Alle Menschen machen Fehler, aber mit Autos sind diese Fehler gefährlich
    Im täglichen Straßenverkehr erleben wir Menschen, die sich nicht regelkonform verhalten: Man wird ausgebremst, zu eng überholt oder genötigt. Manchmal ist dieses Verhalten bewusst, manchmal rücksichtslos, manchmal unbeabsichtigt. Dies gilt für alle Verkehrsteilnehmer*innen – unter ihnen gibt es, egal wie sie unterwegs sind, sehr rücksichtslose und sehr rücksichtsvolle Menschen. Aber eins wissen wir aus den Unfallstatistiken: Die Hauptunfallverursacher*innen sind die Fahrer*innen der motorisierten Fahrzeuge.
  4. Das Unfallursachenverzeichnis kennt nur Verhalten, keine Infrastruktur
    Wenn ein Crash passiert, werden bis zu acht Fehlverhalten von 89 festgelegten Unfallursachen dem Crash zugeordnet: Fehler beim Überholen, zu hohe Geschwindigkeit, Nichtbenutzen des Gehweges usw. Als eine Radfahrerin in der Frankfurter Allee in Berlin einem auf dem Radstreifen falsch abgestellten Auto auswich, wurde sie von hinten von einem Lkw angefahren und getötet. Die Unfallursache: „Fehler beim Einfahren in den fließenden Verkehr“. Der eigentliche Fehler, nämlich ein nicht vorhandener sicherer Radweg, der das Falschparken erst ermöglichte, ist nicht als Ursache vorgesehen.
  5. Sicherheit ist planbar
    In mehreren europäischen Städten wurde Tempo 30 eingeführt (Helsinki, Oslo, Brüssel, Bologna). In allen vier Städten sterben keine Menschen mehr im Straßenverkehr. Es grenzt ans Unwahrscheinliche, dass alle Einwohner*innen in diesen Städten sich wie von Zauberhand auf einmal durchgehend regelkonform verhalten – und es deswegen nicht zu Kollisionen kommt. Dieses Beispiel zeigt nur zu deutlich, dass nicht die individuelle Regeltreue, sondern eine kluge Lenkung des Verkehrs entscheidend ist.
  6. Niederlande: Das eigene Gefahrenpotenzial berücksichtigen
    Es ist ja nicht so, dass menschliches Verhalten gar keinen Einfluss auf das Unfallgeschehen hätte. Dieses lässt sich aber mit kluger, sogenannter fehlerverzeihender Infrastruktur auch im Kleinen lenken: In unserem Nachbarland Niederlande reserviert die Verkehrsplanung in Kreuzungen einen Wartebereich für rechtsabbiegenden Pkw, in dem die Sichtverbindungen zum Rad- und Fußverkehr optimiert sind; das Rechtsabbiegen wird somit viel sicherer. Es gibt ein lückenloses Netz an Radwegen und klare Signale an die Autofahrenden: In manchen Nebenstraßen ist das Auto „zu Gast”, auf Landstraßen ist der schnelle Autoverkehr vom Radverkehr physisch getrennt. Geschieht dann doch ein Crash, urteilt die niederländische Gesetzgebung, dass das Gefahrenpotenzial des Autos Berücksichtigung finden muss, nach dem Motto: Mit einem Zweitonner kann man viel Schaden anrichten und deswegen erwartet das Gesetz, dass Autofahrende extra vorsichtig und rücksichtsvoll unterwegs sind.
  7. Regeln bevorteilen den Autoverkehr 
    Seit Jahrzehnten ist die Verkehrsplanung auf einen ungehinderten Verkehrsfluss ausgerichtet – wohlgemerkt den des Autoverkehrs. Ampeln werden so geschaltet, dass der (Auto-)Verkehr fließt, Abbiegekurven werden abgeflacht, damit man (im Auto) zügig um die Ecke fahren kann, Fahrspuren sind breit und erlauben schnelles Fahren usw. Allmählich entsteht ein Bewusstsein, dass hier eine Verkehrsform übermäßige Privilegien genießt – auf Kosten aller anderen. Viele Menschen spüren, dass es vor allem in den Städten einfach zu viel geworden ist – zu viele Staus, die Luft ist schlecht, überall parken Pkw, und der Schulweg ist viel zu gefährlich, um ihn Kinder alleine gehen zu lassen.
    Auch im Verhalten ändert sich langsam etwas: Die Fahrleistung der Pkw geht seit Corona in den Städten zurück, d. h. es gibt zwar mehr Autos, aber sie fahren immer weniger. In manchen Städten wie Berlin ist das Auto zu einer Art Mobilitätsreserve geworden: Im Alltag fahren die Menschen mit Bus, Bahn, Rad oder sind zu Fuß unterwegs. Nur 22 Prozent der Wege in Berlin werden mit dem Auto zurückgelegt. Es ändert sich also etwas – aber das Design der Straßen wird nur selten an die neue Realität angepasst. Fußgänger*innen müssen z. T. immer noch lange Umwege machen, um stark befahrene Straßen sicher zu überqueren. Nur fünf Prozent des Radverkehrsnetzes in Berlin sind fertiggestellt. Bus und Tram stehen oft mit den Pkw im Stau, weil sie keine eigenen Spuren haben. Diese Umbrüche schaffen neue Konflikte.
  8. Die Flächenverteilung bevorzugt den Autoverkehr
    Der Straßenraum ist endlich. Mehr als 60 Prozent des öffentlichen Raumes sind heute immer noch für den Autoverkehr vorgesehen – auf dieser Fläche ist der Aufenthalt für nicht-motorisierte Menschen nicht vorgesehen und dementsprechend wirklich gefährlich. Mehr Sicherheit erreichen wir, wenn wir diese Gefahr reduzieren: mit Verkehrsberuhigung, mit der physischen Trennung der Verkehrsarten und mit einer gezielten Förderung des Umweltverbundes, also Fuß-, Rad- und öffentlicher Personenverkehr. Denn je mehr Menschen gute Alternativen zum Auto haben, desto mehr Menschen werden umsteigen. So reduzieren wir das Gefahrenpotenzial und machen Platz für diejenigen, die wirklich auf das Auto angewiesen sind.
  9. Wird dann alles gut?
    Eine sichere Infrastruktur ist für alle ein Gewinn – von sicheren Schulwegen profitieren alle Menschen, nicht nur die Kinder. Aber auch in einem Verkehrssicherheitsparadies werden Menschen sich nicht immer regelkonform verhalten. Es werden neue Konflikte entstehen, die bewältigt werden müssen. Im dichten urbanen Raum knallt es nun mal öfter zwischen Menschen. Der Vorteil bei einer guten, fehlerverzeihenden Infrastruktur mit Tempo 30 ist aber, dass erheblich weniger Menschen als heute schwer verletzt oder sogar getötet werden. Auch wenn sie mal vergessen haben, das Licht anzuschalten.