Rede von Stefan Meissner, gehalten auf der Mahnwache in Müggelheim
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Familie, liebe Angehörige, liebe Freunde,
wir sind zusammen gekommen, um in dieser schweren Zeit zusammen zu stehen und unsere Solidarität zu zeigen, um gegenseitig Kraft zu geben. Im Namen von Changing Cities und dem ADFC Berlin bedanke ich mich bei allen, dass Sie da sind.
Eine Frau ist gestürzt und wurde von einem Bus überfahren. Sie starb sofort, vor den Augen ihres Sohnes. Das ist so grausam und so unmenschlich. Es ist ein furchtbares Sterben. Wir sind auch deswegen hier, weil wir nur ahnen können, wie schrecklich dieser Verlust im Alltag ist. Denn es wurde nicht nur eine Frau aus dem Leben gerissen, es ist nicht nur eine Randnotiz in der Zeitung. Nein, für viele hier ist dieses Ereignis einschneidend: Es fehlt jetzt eine Tochter, eine Mutter, eine Ehefrau, eine Freundin, eine Kollegin, eine Nachbarin. Wo letzte Woche noch Alltag mit fester Gewissheit, Zuversicht und Zukunftspläne war, ist jetzt bei ganz vielen Menschen Schock, Schmerz und Verlust.
Und deswegen stehen wir hier zusammen, denn wir alle haben Angehörige, die uns so viel bedeuten, wie Ihnen die Frau, die hier aus dem Leben gerissen wurde. Wir möchten diese Angehörigen nicht so verlieren und wir möchten auch unsere Angehörigen so nie zurücklassen müssen. Wir sind alle so verletzlich. Und deshalb stehen wir beisammen. Auch wenn ich die Frau und die betroffene Familie nicht kannte, geht mir das Geschehene nah. Denn das Sterben im Straßenverkehr passiert leider praktisch überall in der Stadt und leider auch sehr regelmäßig. Und dazu kommen noch unzählige Unfälle mit Schwerverletzten, die ebenso Leben fast völlig zerstören können. Wir machen diese Mahnwachen, weil wir uns damit nicht abfinden wollen und auch nicht können.
Zu diesem Unfall hier sind bei mir so viele Fragen offen, dass ich keine voreiligen Urteile über die Beteiligten fällen möchte. Was hier konkret passiert ist, wird vor Gericht geklärt. Vielleicht soviel: die Straße ist vergleichsweise schmal. Es kann sein, dass der gesetzlich vorgeschriebene Abstand eingehalten wurde – wenn auch sehr, sehr knapp. Vielleicht aber auch nicht, das wird sich zeigen. Für den konkreten Fall ist es jetzt leider für immer zu spät.
Und trotzdem: es kommt jetzt darauf an, dass sich so etwas nicht wiederholt. Wir wollen, dass diese schweren Unfälle aufhören. Wir wollen, dass niemand umkommt, sondern alle sicher ihr Ziel erreichen. Aber so sieht unser Verkehrssystem und unser Verkehrsverhalten nicht aus. Da ist nach wie vor der störungsfreie, schnell fließende Autoverkehr wichtiger. Einschränkungen sollen die Ausnahmen sein. Und das sehen wir hier auch:
Wir haben hier eine schmale Straße, etwa 5,80 Meter breit. Ein ganzes Wohngebiet muss hier durch. Direkt nebenan ist eine Grundschule, dahinter eine Sportanlage. Für Radwege hat man keinen Platz vorgesehen, einen Fußweg gibt es nur auf einer Seite.
Und trotzdem gilt hier Tempo 30 nur von Montag bis Freitag, von 7-18 Uhr. Und dazwischen gibt es unverbindliche Schilder „Vorsicht Kinder“ – wie zur Ermahnung, dass man hier wirklich nur 30 fahren soll. Wenn man jetzt, wie am Freitag geschehen, zwei Stunden später mit dem Rad auf dieser schmalen Straße durch muss, dann hat man Pech. Am Wochenende auch.
Wir wissen alle, was passiert: Aus Tempo 50 wird schnell Tempo 55 bis 60. Der Tagesspiegel hat erst vor wenigen Wochen berichtet: jede zweite Autofahrer_in in Berlin fährt zu schnell, auch und gerade in Gebieten mit Tempo 30. Geahndet wird aber erst über einer Toleranzschwelle – obwohl bekannt ist, dass man bei Tempo 30 bereits steht, wo man mit Tempo 50 noch nicht mal reagiert. Die Forderung an die Politik kann nur sein: nehmen sie hier wie auch in ganz Berlin das Tempo aus dem Verkehr. Wir verlieren scheinbar etwas Zeit, wir behalten aber unsere Angehörigen und gewinnen hoffentlich wieder Gelassenheit im Verkehr. Und mir ist das deshalb so wichtig, weil die neue Berliner Regierung bestehende Tempo 30 Abschnitte in Frage stellt. Das ist der völlig falsche Weg. Ich sage Ihnen ganz klar: Damit tragen Sie die Verantwortung für Unfälle, die Menschen verletzen, im schlimmsten Fall auch töten.
Denn wenn ich große Geschwindigkeitsunterschiede auch auf engen Straßen zulasse, dann passiert, was passieren muss: Es wird auch auf solchen Straßen überholt, egal, ob der vorgeschriebene 1 Meter 50 Abstand vorhanden ist – oder eben nicht. Ich zitiere wieder den Tagesspiegel, der bereits 2018 aufwendig nachgewiesen hat: Bei jedem zweiten Überholen wird der Mindestabstand missachtet. Und ohne Abstand gibt es keinen rettenden Puffer im Falle eines Sturzes oder eines Schlingerns. Und dann kann passieren, was hier mutmaßlich passiert ist.
Aber ich habe noch nie gehört oder erlebt, dass enges Überholen durch die Polizei kontrolliert und geahndet wird. Noch nie. Unsere Sicherheit kann in der Regel völlig folgenlos gefährdet werden. Und zwar jeden Tag. Wie kann das sein? Wir fahren Fahrrad, um unsere Ziele zu erreichen. Wir wollen dabei aber keine Angst haben müssen.
Und das betrifft auch den Busverkehr in Berlin. Viele von uns haben etliche Male schon erlebt, wie es ist, wenn ein Bus eng an einem vorbeizieht, direkt vor der Nase an die Haltestelle fährt, egal ob dahinter ein Radfahrender eine Gefahrenbremsung machen musste. Das geht so nicht. Niemand darf im Straßenverkehr gefährdet werden. Egal, wie eng der Fahrplan ist. Auch wenn die Verkehrsplanung uns noch zu oft in gemeinsame Spuren schickt und Haltestellen als Konfliktbereiche gestaltet sind. Wir müssen bereit sein, ein menschliches Miteinander im Verkehrsbereich zu organisieren. Und das heißt dann eben auch ausreichend Flächen für getrennte Busspuren und Radwege bereit zu stellen. Aber was erleben wir stattdessen? Das eine ist, dass die regierende CDU in Berlin für die Sicherheit des Radverkehrs praktisch nichts übrig hat: Keine Flächen, weniger Stellen, weniger Geld und keine Sicherheitsstandards. Denn die Autos dürfen nicht ausgebremst werden. Ich habe vorhin darüber gesprochen, warum Abstand zwischen den Verkehrsteilnehmenden so wichtig ist: da steckt die Fehlertoleranz und die Unfallvermeidung drin, da kommt die Sicherheit her. Und zwar auch auf den Radwegen. Und trotzdem sollen Radwege nach dem Willen der CDU wieder handtuchschmal werden. Erst recht am Rand der Stadt, als ob man hier keine Sicherheit braucht. Stattdessen gibt es ablenkende Helmdebatten. Das ist alles einfach so falsch. Aber das ist nur das eine. Das andere ist, wie hier Konflikte angeheizt werden.
Die CDU bezeichnet gute Radwege als Kampf gegen das Auto. Und wir erleben auf der Straße, dass der Verkehr deutlich aggressiver geworden ist. Es wird gedrängelt, gehupt, dicht überholt, zu schnell gefahren. Man wird absichtlich geschnitten und angebrüllt. Als habe man auf der Straße nichts zu suchen. Als wäre die Teilnahme im Straßenverkehr ein Kampf gegen die anderen. Aber bei allem Willen. Die Frau, die hier Fahrrad gefahren ist, die hat nicht gegen das Auto, nicht gegen den Bus gekämpft. Sie ist einfach nur unterwegs gewesen. Wir können hier nur sagen, und zwar auch an die CDU: Stopp! So geht es nicht weiter. Wir müssen die Schwächeren im Verkehr schützen – sowohl durch rücksichtsvolle Infrastruktur als auch mit rücksichtsvollem Verhalten. Dieses Aufwiegeln muss aufhören. Denn niemand soll so aus dem Leben gerissen werden und zu Hause und im Freundeskreis Stille und Leere zurücklassen.
(Pause)
Wir stehen hier in Solidarität mit den Angehörigen und im Gedenken an die Verstorbene. Als Erinnerung wird gleich der ADFC das weiße Fahrrad aufstellen. Aber zuvor bitte ich Euch: Läutet zur Erinnerung drei Mal mit Eurer Klingel. Anschließend setzen wir uns zum stillen Gedenken auf die Straße.