Was haben Kiezblocks mit Donuts zu tun?

von Nicole Hartmann

Die Rede ist nicht von süßen Krapfen, sondern in diesem Fall geht es um knallharte Fakten: um sozio-ökonomisches Denken. Die britische Ökonomin Kate Raworth bringt die sozialen Bedürfnisse der Stadtbevölkerung mit den ökologischen Grenzen des Planeten in Einklang. Um diese Verbindung leichter vorstellbar zu machen, hat sie ein Symbol aus zwei Kreisen entwickelt – den Donut. Sie nennt ihre Theorie die “Donut-Ökonomie”. Der äußere Kreis beschreibt auf neun Feldern die planetaren Grenzen, die die Menschheit nicht überschreiten darf, zum Beispiel Übersäuerung der Ozeane, Artenvielfalt, Luftverschmutzung oder Erderwärmung – über diese Grenzen hinauszugehen, ist Exzess. Der innere Kreis definiert die sozialen Bedürfnisse, die jeder Mensch für ein gelingendes Leben hat: z. B. sauberes Wasser, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie soziale und politische Teilhabe – hier sollte es keinen Mangel geben. 

Den Bereich zwischen den Kreisen nennt Raworth sweet spot, den „süßen Ort“, an dem es uns gut geht. Darin kann sich jeder Mensch in einem sicheren und gerechten Raum entfalten, ohne auf Kosten von anderen zu leben.

Einen solchen sweet spot im Kleinen will die Kiezblocks-Bewegung schaffen, indem sie einseitig dominierte Stadträume hin zu vielseitig gestalteten und nutzbaren Kiezen entwickelt. Mit der Weiterentwicklung und Anpassung der Superblocks aus Barcelona an Berliner Verhältnisse wird die Donut-Theorie auf konkrete lokale Gegebenheiten heruntergebrochen – denn darum geht es: das Donut-Denken in die Praxis zu übersetzen. Der Donut ist ein anschauliches Denkwerkzeug, ein Kompass, mit dem sich Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen als Teil von Wirtschaft und ihrem sozial-ökologischen Umbau begreifen können. Das Herz der Donut-Ökonomie bilden sieben Prinzipien, von denen sich insbesondere drei am Beispiel der Kiezblocks verdeutlichen lassen.

  1. In Systemen denken

Das Spannende an der Donut-Ökonomie ist, dass sie nicht vorgibt, Antworten zu kennen, sondern dass sie dazu anregt, die richtigen Fragen zu stellen und immer weiter zu fragen, bis möglichst alle Aspekte gesellschaftspolitischer Entscheidungen erfasst sind. Ein Kiezblock, in dem nur noch Rettungsfahrzeuge, Müllabfuhr, Anlieger- und Lieferverkehr fahren dürfen und in dem es keinen Durchgangsverkehr mehr gibt, sorgt nicht nur für Verkehrsberuhigung, sondern bringt:

  • mehr Luftreinheit
  • weniger Lärmbelastung
  • mehr Sicherheit für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen
  • mehr Aufenthaltsqualität auf den Straßen
  • mehr Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum
  • wirtschaftliche Belebung anliegender Geschäfte
  • mehr lokale Wertschöpfung
  • uvm.

Klimaschutz durch mittel- und langfristig weniger Emissionen von CO2 und anderen Schadstoffen ist hier der BONUS. Es werden also viele Fliegen mit der berühmten einen Klappe geschlagen. Man sieht förmlich, wie sich vor dem inneren Auge die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Bereichen zu einem Netz zusammensetzen.

2. Das Gesamtbild sehen

Wenn man aber über den einzelnen Kiezblock hinausschaut, muss man noch weiter denken und die gesamtstädtischen Auswirkungen der Verkehrsberuhigung einzelner Bereiche betrachten. Ein Argument, das oft gegen Kiezblocks angeführt wird, lautet, dass mit der Schaffung verkehrsarmer Zonen und der gesteigerten Lebensqualität auch die Begehrlichkeit, dort zu wohnen, steigt und es in der Folge zu Verdrängung durch Mietpreissteigerungen kommen kann. 

Dies ist ein ernst zu nehmendes Argument, das nicht leichtfertig abgetan werden kann. Hierin zeigt sich die Stärke des systemischen „Mit dem Donut Denken“, das die berechtigten Anliegen der Anwohner*innen der Kiezblocks mit den Interessen der übrigen Stadtbevölkerung abgleicht. Um die sozialen Bedürfnisse aller Bewohner*innen zu achten, sind systemische Gesamtkonzepte der Stadtplanung nötig, nicht nur zur allgemeinen Verkehrsberuhigung und Schaffung von Lebensqualität, sondern auch zur Gewährleistung von Teilhabe aller daran, u. a. durch bezahlbaren Wohnraum. Je mehr Kiezblocks als einzelne Mosaiksteine im Stadtraum für Entschleunigung und gerechtere Stadtraumnutzung stehen, desto mehr Menschen profitieren von den positiven Auswirkungen und umso näher kommen wir vielleicht auch der Vision einer 15-Minuten Stadt. Somit ist die Kiezblocks-Bewegung ein Vorreiter für die Transformation unserer Lebensweise von unten. 

Die Grafik zeigt eine Reihe von Aspekten eines Kiezblocks und wie sie miteinander zusammenhängen

3. Die menschliche, soziale Natur nähren 

In der Donut-Ökonomie geht es darum, Vielfalt, Partizipation, Zusammenhalt und Gegenseitigkeit zu fördern, Gemeinschaftsnetzwerke zu stärken und sich mit einer Haltung des Vertrauens zu begegnen. Ein solcher Ansatz bietet eine Zugangsmöglichkeit für jede*n und bricht die scheinbar unüberblickbare Komplexität unseres Systems so herunter, dass sich jede*r Einzelne wieder handlungsfähig fühlen kann. Die Donut-Ökonomie ist auch eine Ökonomie des Ortes: Da, wo sich unser Leben unmittelbar abspielt, wo wir direkten Kontakt aufnehmen können – zu unseren Nachbar*innen aller Altersschichten und zu denen, die für unsere täglichen Bedarfe sorgen. In den Kiezblocks entsteht eine neue Verbundenheit – zur alltäglichen Umgebung selbst wie zu den Menschen, denen wir begegnen. Unsere direkte Umgebung verändern und mitgestalten zu können, gibt uns das Gefühl, wirkmächtig zu sein. Je mehr Menschen daran beteiligt sind, diese Räume zu schaffen und zu erleben, wie sich ihre Lebensqualität dadurch verbessert und wie sie regenerative Lebenszeit gewinnen, desto mehr Kraft entfaltet sich für den großen systemischen Wandel. Die Kiezblocks-Initiativen, die sich austauschen, ihr Wissen und ihre Methoden teilen, sich gegenseitig stärken und stützen, zusammenhalten und einander befähigen, politisch aktiv zu sein, sind hier ein entscheidender Akteur der Donut-Ökonomie in Praxis. 

Nicole Hartmann ist Mitgründerin der Donut-Berlin-Initiative, die mit dem Kommunikationswerkzeug des Donut den Wandel Berlins zu einer regenerativen Stadt fördern will. In Gesprächen, Vorträgen und Workshops regt diese Initiative dazu an, durch die Brille des Donut systemisch zu denken und Lösungen für komplexe Probleme mit all ihren Wirkungen zu betrachten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Donut-Ökonomie vielen Menschen ermöglicht, sich selbst als Teil von Wirtschaft zu begreifen und dazu inspiriert, soziale und ökologische Kriterien für ihre Entscheidungen zu berücksichtigen.

nicole.hartmann@wechange.de https://donutberlin.de/