Manja Schreiner: Radwege stören den rasenden Status quo

Eine Raddemo: Jemand aht ein selbstgemaltes Schild: Mobilitätsgesetz verteidigen

Eine Analyse von Stefan Meißner

Allem freundlichen Lächeln auf Fotos zum Trotz: Die CDU-Verkehrssenatorin reiht den Rad- und Fußverkehr nach ganz hinten ein. Sie gibt sich zwar fahrrad- und fußgängerfreundlich, aber wenn es konkret wird, dann wird der Autoverkehr priorisiert und Menschen auf dem Rad werden mit Brotkrumen abgespeist und auf die Gehwege der Fußgänger*innen geschickt.

Davon zeugt auch eine Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt. Da werden zwar Maßnahmen für den Radverkehr aufgezählt, aber vor allem wird in schöne Worte gekleidet, wie viel hier gestrichen werden soll. Denn laut Autosenatorin müssen sich Radfahrende halt damit abfinden, dass Pendelnde im Auto, Lkw und Transporter wichtiger sind, weil der Radverkehr letztere vor allem stört. Das ist so wichtig, dass sie sich selbstherrlich über gesetzliche Vorgaben hinwegsetzt.

Bereits die Überschrift hat es in sich: „Priorisierung der Radverkehrsprojekte für funktionierenden Verkehrsfluss in Berlin.“

Priorisierung meint an dieser Stelle nicht, dass Radverkehrsprojekte Priorität und Vorrang genießen, sondern hier soll ausgewählt, mit anderen Worten gestrichen werden. Warum? Der Verkehrsfluss in Berlin soll gewährleistet werden. Offensichtlich gilt hier der Radverkehr nicht als Verkehr, denn er würde von den Radverkehrsprojekten ja profitieren. Nein, die Radwege müssen sich nach dem „richtigen“ Verkehr richten, und das ist die eigentliche Priorität, um die man sich kümmern muss.

Es folgt in der Pressemitteilung eine Auflistung aus den Richtlinien der Regierungspolitik bzw. aus dem Koalitionsvertrag, den wir hier schon unter https://changing-cities.org/cdu-und-spd-torpedieren-das-mobilitaetsgesetz/ kommentiert haben.

Kurz gesagt: Die Senatorin plant ein Alternativprogramm unter völliger Ausblendung von gesetzlich vorgegebenen Ausbauzielen und -qualitäten, ohne das Mobiltätsgesetz mit seinen Zielen und die dahinter liegenden Rechtsverordnungen überhaupt zu berücksichtigen. Ausgerechnet eine Partei, die den Rechtsstaat wie eine Monstranz vor sich her trägt, ignoriert ein gültiges Gesetz und dessen Rechtsverordnungen. 

Senatorin Schreiner spricht dann von einer nötigen Umplanung („Weiterentwicklung“) wegen haushalterischer Restriktionen und wirft gleichzeitig mit dem Stopp die bereits jetzt geflossenen Geldmittel weg. Aber es gibt nichts, was in der Politik so ehrlich ist wie der Haushalt und die Personalbemessung: Wer hier von „haushalterischen Restriktionen“ bei einem der günstigsten Verkehrsmittel spricht, der zeigt, dass ihm bzw. ihr der Radverkehr nichts wert ist – und dass lieber Gelder verschwendet werden, als dass sie in den beschlossenen, geplanten und finanzierten Ausbau von Radwegen fließen.

Ebenso endet die PR-Sprechweise, wenn es um die konkrete Flächenaufteilung geht. Für Frau Schreiner sind Radwege vorerst nur dann o. k., wenn sie bestehende ungerechte Flächenverteilung nicht verändern oder wenn sie zu Lasten des Fußverkehrs gehen (soweit zur Förderung der Fußgängerfreundlichkeit und des Miteinanders am Straßenrand). Denn die Fahrbahn ist sakrosankt: Fahrstreifen dürfen nicht angetastet werden und 10 Meter Abstellfläche für Autos sind halt wichtiger als 100 Meter Radweg.

Bei anderen Projekten wird offensichtlich, dass die Autosenatorin ein klares Problem mit der Priorität des Radverkehrs vor dem fahrenden Autoverkehr und den abgestellten Autos hat. Das sagen die Kriterien, mit denen die bisherigen Projekte hinterfragt werden.

Für gewöhnlich werden Radwege angelegt, um Menschen auf stark befahrenen Straßen das sichere Radfahren zu ermöglichen. Radwege ermöglichen gleichzeitig klimaschonende Mobilität und Verkehrssicherheit: also dass Menschen auf dem Rad weder von Autos gefährdet werden, noch dass Menschen auf dem Rad Fußgänger*innen auf dem Gehweg gefährden. Dazu gibt es entsprechende Standards, wie diese Radwege anzulegen sind. Weil Radwege dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit dienen, haben sie auch nach bundesweit geltenden Vorschriften im Zweifel Vorrang vor dem Abstellen von Autos.

Wenn man in der Pressemitteilung nun danach fragt, welche Ziele mit der Radwegeinfrastruktur verfolgt werden, dann steht das für ein ideologisches Misstrauen, dass die bisherigen Planungen ganz andere Ziele hatten.

Die Pressemitteilung fragt nach den Verkehrszahlen – als ob diese bei der Planung und der bisher erfolgten Schwerpunktsetzung keine Rolle gespielt haben. Es wird bezweifelt, dass die Radwege genutzt würden oder dass es zu viel Autoverkehr gibt. Aber gerade bei vielem Autoverkehr werden baulich getrennte Radwege auch nach bundesweiten Richtlinien zwingend, denn es ist niemandem zuzumuten, auf autobahnähnlichen Straßen ohne Schutz Fahrrad zu fahren. Das gilt auch andersherum: Der Bedarf nach einer Brücke richtet sich nicht danach, wie viele Menschen vorher durch einen Fluss geschwommen sind.

Diese bei jeder Planung zu berücksichtigenden Fragen erneut zu stellen, ist nichts anderes als ein Misstrauensvotum an die eigenen Planungsteams. Wer geht da morgen noch motiviert zur Arbeit, wenn den Planenden heute so per Pressemitteilung Unfähigkeit bei der bisherigen Tätigkeit unterstellt wird?

Die eigentliche und ehrliche Prüffrage ist unmissverständlich:

„Welche Alternativen zu den derzeitigen Planungen gäbe es, damit Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr und des ruhenden Verkehrs ggf. geringer ausfallen würden?“

Das Auto soll möglichst viel Bestandsschutz bekommen.

Der echte Hammer ist aber das persönliche Zitat von Frau Schreiner. Deshalb gehen wir es hier mal schrittweise durch:

„Wir möchten mehr, aber vor allem funktionierende und bedarfsgerechte Radwege.“

Das klingt erstmal gut. Aber was sind funktionierende und bedarfsgerechte Radwege? Nach unserem Verständnis funktionieren Radwege dann, wenn alle Menschen mit dem Fahrrad, also auch Kinder und Ältere sicher und entspannt auf diesen Wegen ihre Ziele erreichen können. Dafür gibt es die Standards in den bundesweiten Empfehlungen für Radverkehrsanlagen und die Vorgaben aus dem Mobilitätsgesetz und dem Radverkehrsplan. Bedarfsgerecht heißt für uns, dass die Ziele erreicht werden, die man erreichen möchte: die Wohnorte, die Schulen, die Arbeitsorte, die Einkaufsstätten, die sozialen und kulturellen Einrichtungen. In einer dicht besiedelten Stadt wie Berlin folgt daraus: Überall in der Stadt liegen Ziele, und die müssen sicher erreicht werden können. Damit gibt es überall Bedarf für Radverkehrsinfrastruktur.

Aber darauf will Frau Schreiner nicht hinaus:

„Ziel der Priorisierung der Maßnahmen der Radfahrinfrastruktur ist ein insgesamt funktionierender Verkehrsmix für alle Berlinerinnen und Berliner und damit auch ein funktionierendes Radverkehrsnetz. Dafür schauen wir uns alle Radverkehrsprojekte genau an. Wir gehen nicht mit der Schablone vor, sondern orientieren uns am Bedarf aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. So müssen große Straßen in der Stadt für den Pendler-, Wirtschafts- und Lieferverkehr leistungsfähig bleiben.“

Hier sagt die Senatorin unmissverständlich: Wir streichen Vorhaben beim Radwegebau, weil Radwege andere Verkehrsteilnehmer*innen stören, weil sonst deren Verkehr nicht mehr funktioniert. Über das Netz und die Standards entscheiden eben nicht vorrangig die Bedürfnisse des Radverkehrs. Der Radverkehr und seine Schutzeinrichtungen sind auf den großen Straßen in (!) der Stadt ein Problem, denn sie könnten die Leistungsfähigkeit des motorisierten Pendler-, Wirtschafts-, und Lieferverkehrs einschränken. Pendel- und Wirtschaftsverkehr ist der eigentlich wichtige Verkehr – Hauptverkehr für die Hauptverkehrsstraße. Radfahren ist in den Nebenstraßen besser aufgehoben, denn er ist „Muße“ und Nebenverkehr, also Nebensache.

Deutlicher kann Senatorin Schreiner ihre Missachtung für die vielen Menschen nicht ausdrücken, die mit dem Rad zur Arbeit oder zur Schule fahren, die auf dem Rad Pakete ausliefern oder anderweitig mit dem Fahrrad zur Wirtschaft in dieser Stadt beitragen. Auch diese Menschen halten die Stadt am Laufen und sie sind überall auf gute und sichere Radwege angewiesen. Denn es ist keine Aufgabe einer Verkehrssenatorin, Radfahrende von den Hauptstraßen zu verdrängen, sondern die Verkehrssenatorin muss endlich dafür sorgen, dass niemand mehr im Berliner Straßenverkehr verletzt oder getötet wird. Sie muss auch die Stadt so aufstellen, dass alle Menschen mobil sein können, ohne weiter unsere Erde zu verbrennen – und zwar ohne dass sie sich ein teures Auto kaufen müssen oder auf den ÖPNV angewiesen sind.