Öffnet die Straße im Kopf!

von Dirk von Schneidemesser

Oft reden wir von Straßensperrungen oder gesperrten Straßen… wenn wir eigentlich das Gegenteil beschreiben wollen. Stellen wir uns eine Straßensperre vor! Wirklich: Augen zu, eine Minute Straßensperren vorstellen, dann erst weiterlesen.

Mir kamen folgende Bilder vor mein inneres Auge: Stacheldraht und Soldat*innen, Bergstraßen mit Lawinenschnee, brennende Autoreifen mit maskierten Demonstrant*innen, ein großes Loch mit dicken Rohren, große Klumpen Asphalt und Menschen mit Schutzhelmen und  Presslufthämmern.

Diese Bilder haben nichts, aber wirklich gar nichts mit Fußgängerzonen, Straßenfesten, Wochenmärkten und spielenden Kindern zu tun. Trotzdem beschreiben wir – also du und ich, Politiker*innen und Journalist*innen – Straßen, auf denen man nicht mit dem Auto fahren darf als gesperrt. Ja, ich tue es auch. Sogar dann, wenn die Straße für Menschen offen ist, mit dem Rollator über Sandalen bis hin zu Rollschuhen… eben nur nicht mit dem Auto.

Die autofreie Berliner Friedrichstraße, der autofreie Frankfurter Mainkai oder eine beliebige temporäre Spielstraße sind nicht gesperrt. Sie werden aber als gesperrt bezeichnet. Wir beschreiben komischerweise Straßen als gesperrt, die nur für eine einzige Art der Benutzung – nämlich den Kfz-Verkehr – nicht zugänglich sind. 

Diese Sprachanwendung täuscht. Wir sollten sie hinterfragen und anpassen, denn mit ihr wird ein Status quo zementiert, im Kopf und auf der Straße. Bleiben wir stellvertretend bei dem Beispiel der Berliner Friedrichstraße: Die Straße ist seit Ende August 2020 verändert. Lass uns kurz eruieren, wie es vorher war und wie es jetzt ist, um festzustellen, ob das Adjektiv „gesperrt“ angebracht ist.

#1 – Vorher: Gehwege auf beiden Seiten, auf denen sich vereinzelt Rollerfahrer*innen und Radfahrende gemeinsam mit den zu Fuß Gehenden drängen, je Seite eine Reihe Abstellflächen für Privatfahrzeuge und in der Mitte zwei Kfz-Fahrstreifen (einer je Richtung). Eine ziemlich normale Straße.

#2 – Nachher: Gehwege auf beiden Seiten, dann jeweils ein Streifen, auf denen Fahrzeuge nicht erlaubt sind, sondern für Aufenthalt, Fußverkehr, Bäume, Gewerbe oder Kultur vorgesehen sind. In der Mitte zwei Fahrstreifen (einer je Richtung) für den Radverkehr, wo aber Rettungsfahrzeuge im Falle eines Einsatzes Vorfahrt, sog. Safety Lanes, haben.

Welche von den beiden Versionen wird treffender als „gesperrte Straße“ beschrieben? Ganz klar: #1. Dort ist nämlich die Straße gesperrt für alle, die nicht in einem Kraftfahrzeug sitzen (mit Ausnahme der Gehwege, die es auch in Version 2 gibt). Es empfiehlt sich für alle anderen ausdrücklich, die Straße NICHT zu betreten, und wenn doch, besser in Schutzausrüstung, denn das würde die Überlebenschancen erhöhen. Für ältere Leute auf Skateboards oder Jugendliche mit Rollator oder Kinder auf Dreirädern ist die Straße gesperrt. Menschen, die sich miteinander unterhalten wollen, sind ein Hindernis oder in Gefahr. Ebenso sind alle sozialen Aktivitäten wie essen, küssen, kaufen, verkaufen, musizieren, Sonne tanken oder Regen schlürfen verboten oder riskant – alles außer Autofahren.

Bei #2 hingegen, die oft als „gesperrte Straße“ beschrieben wird, sind alle diese Menschen und ihre Aktivitäten möglich. Auch das Durchfahren ist möglich: für Menschen mit Skateboards, Fahrrädern, Rollschuhen und Rettungswagen. Nur das Mitbringen eines Autos ist nicht erlaubt. Trotzdem empfinden viele diesen Zustand absurderweise als gesperrt, obwohl das den tatsächlichen Zustand der Straße komplett falsch beschreibt.

Lassen wir uns nicht durch uns selbst weiter täuschen! 

Stehen Straßen für eine große Vielfalt an Menschen und Aktivitäten zu Verfügung, reden wir von jetzt an von „offenen Straßen.“ Wenn Straßen sich noch in ihrem „normalen“ Zustand befinden, also für alles und alle jenseits des Kraftverkehrs gesperrt  sind, ist die Beschreibung „gesperrt“ angebracht. Denn neue Mobilität beginnt im Kopf.